Erste Einstweilige Verfügung gegen Twitter

Boris Reitschuster. Foto: Pavel Ruban

Das Landgericht Hamburg zwingt den Kurznachrichtendienst, eine Beleidigung via Emoticon zu löschen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Landgericht Hamburg hat unter dem Aktenzeichen 324 O 442/18 die - bislang bekannt - erste einstweilige Verfügung gegen den Kurznachrichtendienst Twitter erlassen. Auftraggeber der vom bekannten Hamburger Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel erwirkten Maßnahme ist der ebenfalls bekannte Journalist und Buchautor Boris Reitschuster, der von 1999 bis 2015 das Moskauer Büro des deutschen Nachrichtenmagazins Focus leitete.

Der 47-Jährige, der Bücher wie Wladimir Putin - Wohin steuert er Russland?, Putins Demokratur und Putins verdeckter Krieg - Wie Moskau den Westen destabilisiert veröffentlichte, hatte am 23. September auf ein Interview reagiert, das Uli Grötsch, der Generalsekretär der bayerischen SPD, dem russischen Portal Sputnik Deutschland gab. Seine Meinung dazu war:

Wie verzweifelt muss die Lage der SPD sein, wenn ihr Bayern-Chef vor den Wahlen ein 'Exklusiv-Interview' ausgerechnet dem Kreml-Propaganda-Organ 'Sputnik' gibt, mit der Schlagzeile 'letzter Anlauf'? (Boris Reitschuster)

Justiziabler Rebus

Über diese Meinung lässt sich trefflich streiten. Zum Beispiel darüber, ob es für Parteien im Hinblick auf Wahlerfolge nicht sinnvoll sein kann, Interviews auch außerhalb parteinaher Medien zu geben. Darum, wie man deutsche regierungsnahe Medien einstuft, wenn man die (unbestrittene) Kremlnähe von Sputnik kritisiert. Oder darum, was es über das SPD-Personal und die Medien aussagt, dass ein Interview von Grötsch mit Sputnik klappt, während die Bundesvorsitzende einem mit den - durchaus nicht als übertrieben SPD-kritisch bekannten - Nürnberger Nachrichten nach dem Abtippen die Freigabe verweigerte.

Mehrere Twitter-Nutzer machten das in mehr oder weniger zivilisierter Weise. Aber einer, der seinen Kommentar mit einem "@reitschuster" direkt an den Autor richtete, schaffte das nicht. Er drückte über eine Mischung aus Worten und Emoticons nicht nur die Meinung aus, dass der Buchautor seiner Ansicht nach andere Tätigkeiten ausüben sollte, sondern beleidigte ihn auch mit einer Bezeichnung, die eindeutig justiziabel wäre, wenn man eines der verwendeten Emoticons ausspricht.

NetzDG-Formular nützte nichts

Reitschuster meldete diese gegen ihn gerichtete strafbare Beleidigung bei Twitter über ein entsprechendes Formular als Verstoß gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Das Social-Media-Unternehmen reagierte darauf jedoch nicht mit der erwarteten Löschung, sondern mit der Auskunft, man habe "keinen Verstoß gegen die Twitter-Regeln oder entsprechende Gesetze feststellen" können und sei "deswegen dazu nicht aktiv geworden".

Steinhöfel meinte dazu gegenüber Telepolis:

Heiko Maas hat mit dem NetzDG den größten Flop der letzten Legislaturperiode geliefert. Es kostet Millionen, es bewirkt nichts. Legitime Inhalte verschwinden weiterhin, strafbare Beleidigungen bleiben online, bis ein Gericht Abhilfe schafft. Das Gesetz ist verfassungswidrig und nutzlos. Weg damit! (Joachim Steinhöfel)

Unterschied zu Facebook: Keine Möglichkeit für User, fremde Kommentare selbst zu entfernen

Anders als bei Facebook, wo Nutzer unflätige fremde Postings auf dem eigenen Profil selbst entfernen können, bietet Twitter keine Möglichkeit, entsprechende Tweets in Threads oder mit @-Verweisen zu löschen. Die Möglichkeit, Beleidiger zur blockieren oder stummzuschalten, auf die der Social-Media-Konzern verweist, hat den Nachteil, dass einem Nutzer damit nicht nur justiziable, sondern auch andere kritische und vielleicht sogar konstruktive Kommentare entgehen, die dem Rest der Welt angezeigt werden.

Eine Anfrage von Telepolis, ob der Kurznachrichtendienst hier eine Erweiterung des Instrumentariums in Betracht zieht, blieb bislang ohne Antwort. Dass das Social-Media-Unternehmen grundsätzlich in der Lage ist, auf Kritik zu reagieren, zeigt die seit Ende September angebotene Möglichkeit, die vor zwei Jahren eingeführte Anzeige von Tweets nach einer algorithmisch ermittelten "Relevanz" auszuschalten und sich die Timeline ungefiltert anzusehen (vgl. Twitter bringt die chronologische Timeline zurück).

Dazu muss man rechts oben auf "Einstellungen" und anschließend in der linken Spalte auf "Account" klicken, und die sich öffnende Seite ganz nach unten scrollen. Dort entfernt man dann unter "Timeline" den Haken vor "Die besten Tweets zuerst anzeigen". Was die "besten Tweets" sind, entscheidet seit 2016 Twitter, wobei das Unternehmen als "Tweets, die dich wahrscheinlich am meisten interessieren" auch Inhalte von Akteuren einspielt, denen man gar nicht folgt.

Anders als die Option der Rückkehr zur alten Timeline, gegen die kaum ein User etwas haben dürfte (weil er ja die gefilterte beibehalten kann, wenn er mag), würde eine Löschoption für Nutzer jedoch auch Interessen anderer Nutzer berühren: Während nämlich ein Facebook-Profil recht eindeutig ein Bereich ist, in dem die Gewährung eines gewissen Hausrechts nicht unangemessen erscheint, dürfte dies bei Twitter-Threads und @-Erwähnungen auf den Widerstand von Nutzern stoßen, die sich dadurch zensiert fühlen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.