Erstmals hat das libanesische Militär israelische Soldaten angegriffen
Israel und der Libanon beschuldigen sich gegenseitig, Hisbollah will Beweise vorlegen, dass Israel hinter dem Anschlag auf Hariri steht
Im Libanon überstürzen sich wieder einmal die Ereignisse. Bei einem Zwischenfall an der israelisch-libanesischen Grenze sterben am Dienstag fünf Menschen. Das UN-Hariri-Tribunal (STL) will Hisbollah-Mitglieder des Mordes am Ex-Premierminister anklagen. Für Hassan Nasrallah, den Hisbollah-Generalsekretär, ist das eine Farce und kündigt Beweise an, die Israel der Täterschaft überführen. Nebenbei werden fast täglich neue israelische Spione verhaftet.
Die Israelischen Verteidigungstruppen (IDF) wollten nur einen Baum ausreißen, um bessere Sicht für ihre Überwachungskameras zu bekommen. Mit einem Kran wurde dazu ein Soldat über den Grenzzaun gehievt, worauf die Libanesische Armee in die Luft schoss, nicht weiter zu machen Die IDF feuerte zurück. Beim Schusswechsel starben ein israelischer und drei libanesische Soldaten sowie ein Journalist von Al-Akhbar aus Beirut.
Israel wie der Libanon beschuldigen sich nun gegenseitig, die Verantwortung für den Vorfall zu tragen. Die strittige Frage ist, ob sich der Baum auf der anderen Seite des Zaunes noch auf israelischem, wie auch das US-Außenministerium behauptet, oder bereits auf libanesischem Territorium befand. Beide Länder haben eine Beschwerde bei der UNO in New York eingereicht. Israel räumt aber selbst ein, gelegentlich in Enklaven im Libanon vorzudringen, die zwar Israel gehören würden, aber nicht der von der UN anerkannten Grenzlinie entsprechen, um die Hisbollah zurückzudrängen. Das habe den Vorfall mit ausgelöst. Die Vereinten Nationen teilten allerdings mit, dass sowohl der Libanon als auch Israel Bedenken gegenüber der festgelegten Grenzlinie angemeldet hatten, aber sie schließlich akzeptiert hätten.
Das Scharmützel war der schwerste Zwischenfall seit dem Ende des israelischen Invasionsversuchs im Sommer 2006. Während des 34-tägigen Angriffs wurden insgesamt 1200 Libanesen, davon überwiegend Zivilisten, und 160 Israelis, die meisten Soldaten, getötet. Die libanesische Armee zeigte sich nach dem Vorfall kämpferisch. "Es wird immer die gleiche Antwort auf eine Aggression an der Grenze geben", sagte ein Militärsprecher. "Jeder Angriff gegen den Libanon wird ernsthafte Konsequenzen haben." Selbst Präsident Michel Sleiman sprach von der Notwendigkeit, jeder israelischen Aggression zu begegnen, was immer es auch kosten möge.
Zum ersten Mal hat die Libanesische Armee den Truppen Israels Paroli geboten. Sonst hatte man sich passiv verhalten und bei Konfrontationen im Südlibanon der Hisbollah das Feld überlassen. Bei der Schießerei am Dienstag war es nun umgekehrt. Hisbollah sei zwar bereit gestanden, an der Seite der Armee zu kämpfen, habe aber nicht eingegriffen, wie Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der schiitischen Miliz, versicherte. "Ich habe unseren Kämpfern befohlen, sich nicht einzumischen, um eine Eskalation zu vermeiden."
Man habe auch den Präsidenten und die Militärführung informiert, dass Hisbollah nichts unternehmen würde, aber auf Wunsch natürlich zur Verfügung stünde. Nasrallah erklärte jedoch gleichzeitig während seiner Rede zum vierten Jahrestag des Sommerkriegs von 2006 mit Israel, dass es in der Zukunft ganz anders sein werde. "Von nun an bleibt der Widerstand nicht mehr untätig, wenn die Armee in Gebieten, in denen wir präsent sind, angegriffen wird." Auch der israelische Ministerpräsident Netanjahu droht, dass Israel auf weitere Angriffe entsprechend reagieren werde – mit "massiver Macht".
Hisbollah wird für den Anschlag auf Hariri verantwortlich gemacht
Die Ansprache Hassan Nasrallahs war mit Spannung erwartet worden, nachdem das Special Tribunal for Lebanon (STL), das das Hariri-Attentat von 2005 (Syrien wieder im Visier der USA) untersucht, einige Hisbollah-Mitglieder anklagen will. Der Generalsekretär war von Premierminister Saad Hariri, kurz vor dessen Reise nach Washington Mitte Juli, darüber informiert worden. Der STL-Präsident, Antonio Cassese, erwartet eine Anklage zwischen September und Dezember dieses Jahres.
Hassan Nasrallah sieht dies als ein "gefährliches Projekt, das den Widerstand als Zielscheibe hat." Für den Hisbollah-Chef besitzt das STL keine Glaubwürdigkeit. "Die Anklagepunkte sind bereits geschrieben, bevor unsere Mitglieder noch verhört wurden. Die Anklage ist fertig und Präsentation nur eine Frage des richtigen politischen Timings". In seinem öffentlichen Statement darauf verlangte Nasrallah, dass die Untersuchung auch eine Beteiligung Israels als Möglichkeit in Betracht ziehen müsse, da es die Mittel und Motive für das Attentat auf Rafik Hariri habe. Wenn das STL diese Hypothese nicht aufgreife, "glauben wir, dass es parteiisch ist".
Die kommende Anklage der Hisbollah-Mitglieder basiert auf Daten von Telefongesprächen, die das STL von den beiden staatlichen Telekommunikationsfirmen erhalten hat. Nun wurden in den letzten Wochen vier Mitarbeiter von Alfa und Ogero als mutmaßliche israelische Spione verhaftet. Sie hatten in ihren Betrieben Abhöranlagen installiert und Israel angeblich einen riesigen Fundus von Daten übermittelt. Die vermeintlichen Spione konnten Einträge von Telefongesprächen, Zeit, Dauer und Häufigkeit, als leitende Angestellte leicht ändern. Verlassen kann man sich also auf die von Alfa und Ogero gelieferten Daten also kaum.
Die vier Spione bei den Telekommunikationsunternehmen sind kein isolierter Einzelfall. Seit November 2008 sind über 70 Verdächtige verhaftet worden. 20 davon sind bisher offiziell als Spione Israels angeklagt worden. Ihnen droht die Todesstrafe wegen Landesverrat. Diese Jahr sind bereits zwei Spione hingerichtet worden. Einer hatte während des Kriegs 2006 Koordinaten für israelische Bombenangriffe weitergegeben. Der andere war dem Mossad 2006 bei einem Attentat auf eine palästinensische Gruppe behilflich, bei dem zwei Männer ums Leben kamen.
Einige der entdeckten Spione konnten auch fliehen, direkt nach Israel oder in europäische Länder. Trotz der Verhaftungswelle scheint ein Ende der Spionagenetzwerke im Libanon noch lange nicht in Sicht zu sein. Erst an diesem Mittwoch wurde die Verhaftung von Fayez Wajih Karam, der ehemalige Chef des Geheimdienstes der Polizei, gemeldet. Für viele Libanesen eine große Überraschung, da er als Mitglied der christlichen Freien Patriotischen Bewegung (FPM) im Rampenlicht stand und für das Parlament kandidiert hatte. Vorsitzender der FPM ist Ex-General Michel Aoun, auf politischer Ebene Partner und Verbündete der Hisbollah.
Für Hisbollah steht Israel hinter dem Anschlag
Generalsekretär Hassan Nasrallah kündigte bei seiner Ansprache am Dienstagabend an, er werde nächste Woche Fakten liefern, die bewiesen, dass Israel hinter dem Mord an Rafik Hariri stecke. "Ich klage den israelischen Feind der Ermordung des ehemaligen Premierministers Rafik Hariri an", versprach Nasrallah über Videolink Tausenden von Zusehern in Südbeirut. Es ist das erste Mal, dass Nasrallah Israel als Schuldigen des Hariri-Attentats nennt.
Für den israelischen Minister für Nachrichtendienste ist die Sachlage klar. "Nasrallah steht unter enormen Druck", sagte Dan Meridor. "Wegen der Anschuldigung, dass er oder seine Leute Rafik Hariri ermordet haben. Sie werden versuchen, davon durch etwas anderes abzulenken."
Man kann sich kaum vorstellen, Nasrallahs angekündigte Präsentation von Beweisen soll ein Ablenkungsmanöver sein. Der Generalsekretär hat sich derart in Zugzwang gebracht, er muss etwas Überzeugendes liefern. Sollte er keine "handfesten" Beweise oder Indizien vorbringen, wäre der Schaden für Hisbollah groß. Besser und einfacher wäre es gewesen, die Hisbollah-Mitglieder, die im Herbst vom STL angeblich angeklagt werden, als Verräter und von Israel gekauften Spione abzutun. Hassan Nasrallah scheint wie üblich aufs Ganze zu gehen.
Das Täterkarussell dreht sich also weiter. Anfangs war das UN-Untersuchungsteam fest davon überzeugt, Syrien und seine Verbündeten im Libanon steckten dahinter. Vier libanesische Generäle wurden verhaftet und mussten nach vier Jahren Gefängnis ohne Auflagen wieder freigelassen werden. Nun ist Hisbollah dran, der Verbündete Syriens und des Irans. Sollte eine Tatbeteiligung am Hariri-Attentat nachgewiesen werden, würde man in Washington und allen europäischen Hauptstädten vor Freude in die Hände klatschen. Das Problem der Terroristengruppe Hisbollah hätte sich erledigt. Eine Mörderbande besitzt keine Glaubwürdigkeit, ist kein Verhandlungspartner und kann auch in keiner Regierung sitzen. Das soziale, moralische wie politische Projekt des Widerstands und der Befreiung, das von Hisbollah so oft apostrophiert wird, hätte sich damit selbst diskreditiert.
Über Israel als Tatverdächtigen würde sich die westliche Welt dagegen wenig freuen. Nur 100 Prozent stichhaltige Beweise wird Nasrallah nächste Woche sicherlich nicht liefern, aber er wird Israel als neuen Verdächtigen präsentieren. Damit gehen die Spekulationen weiter, wer Rafik Hariri ermordet hat. Der STL kann sich nur auf unglaubwürdige Zeugen und Telefondaten berufen. Wie fast immer werden die wahren Schuldigen bei Attentaten dieser Größenordnung nie gefunden. Praktisch ist ein Sündenbock, aber Zweifel bleiben.