Es bewegt sich etwas in der Linken

Seite 2: Ein temporärer Sieg - für wen genau?

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Ein temporärer Sieg also. Aber für wen genau? Ein Auftritt, der viel über die Beweggründe der Leute sagt, die dort teilweise jahrelang in Baumhäusern lebten, "ging viral", wie es so schön heißt. Die Aktivisten "Winter" hielt nach ihrer Räumung im Beisein von zwei Polizisten eine Rede, die von Millionen Internetnutzern konsumiert wurde.

Dass das Quasi-Manifest einen solch positiven Widerhall fand, ist vielleicht nicht erstaunlich, aber doch einigermaßen bestürzend. Winters Aussagen sind dermaßen mit naturromantischer Ideologie, deutscher Waldseligkeit und anarchistischen Selbstverwaltungsideen aufgeladen, dass man kaum weiß, wo man mit der Kritik anfangen soll.

Die bescheuerte Idee, dass man mitten im Kapitalismus Reservate schaffen kann, in denen seine Gesetze schon allein deswegen nicht gelten, weil sie per Willenskraft und Proklamation abgeschafft sind, ist in der deutschen Linken einfach nicht tot zu kriegen. Winters Bekenntnisse wabern irgendwo zwischen "Walden", den Ents von Tolkien, der deutschen Romantik und Tolstoj herum.

Sie sind leider an verschiedenen Stellen für höchst unappetitliche Bewegungen anschlussfähig, was sie freilich mit einigen Varianten des Ökologismus, des Anarchismus und anderen alternativen Lebensentwürfen gemein haben. Nicht, dass die emotionale Emphase nicht verständlich wäre, oder dass man den persönlichen Mut und die persönliche Konsequenz Winters verachten müsste. Und Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (resp. Geschwisterlichkeit) stecken ja sympathischerweise in der Rede auch drin.

Aber dass so viele Leute die Proklamation der jungen Frau kritiklos feierten und für Politik hielten, sagt mehr über die analytische Schwäche, Geschichtsvergessenheit und Blindheit der gesellschaftlichen Linken in diesem Land aus, als ihr lieb sein dürfte.

Unangenehme und gefährliche Bestandteile

Analog zur ideologischen Beliebigkeit bei #unteilbar traf hier ein Gesamtpaket auf Begeisterung, das einige extrem unangenehme und gefährliche Bestandteile enthielt. Die Politik der großen Gefühle, die hier betrieben und medial verstärkt wurde, brachte letztendlich, wie das bei solchen aufmerksamkeitsökonomischen Prozessen üblich ist, die Sache selbst zum Verschwinden.

Sie verdeckte, dass Winters Proklamationen gar nicht nötig waren, um den lächerlichen, brutalen Schwachsinn abzulehnen, den die RWE durchziehen wollte. Und neue Videos von den Aktivisten aus dem Hambacher Forst bestätigen, dass es da einiges zu diskutieren gibt - zum Beispiel die Endzeitphantasien ("totale Zerstörung"), die Selbstüberschätzung und natürlich die allgegenwärtigen Arafatwindeln.

Es bewegt sich was in der Linken. Das ist zunächst einmal eine begrüßenswerte Entwicklung. Aber erstens ist die rechte Offensive auf der Straße und in den Parlamenten ungebrochen. Zweitens muss sich erst noch erweisen, ob diese neuen Bewegungen Strohfeuer sind oder nicht. Und es gibt handfeste Gründe, über der Solidarität die Kritik nicht zu vergessen.

1968 saß die NPD in sieben von elf Landesparlamenten der Bundesrepublik.

Der damalige Schwung der 68er-Bewegung erklärt sich auch aus der Erkenntnis, dass in der Bundesrepublik Ende der Sechziger Jahre eine schleichende Faschisierung gesellschaftliche Realität war.

Es wäre wünschenswert, wenn der aktuellen Faschisierung in der Bundesrepublik eine neue außerparlamentarische Bewegung entgegentreten würde, die die zahlreichen Fehler der 68er nicht wiederholt.