"Es gibt keine Depressionen"

Seite 3: Depression ist nur eine Konsensdefinition

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Sie sagen, dass es Depressionen nicht gibt. Können Sie das näher erklären?

Peter de Jonge: Damit meine ich, dass "Depression" eine Konsensdefinition ist, also was bestimmte Expertinnen und Experten über die Probleme der Menschen denken. Fragen Sie aber die Menschen selbst nach ihren eigenen Problemen, ohne diagnostische Kategorien. Zeigt sich dann eine Gruppe von Symptomen, die wir Depression nennen können? Wir haben das bei mehr als 70.000 Menschen untersucht - und auf der Populationsebene finden wir keinen Beweis dafür, dass es viele Menschen gibt, die nur eine reine Depression haben.

Das liegt an zwei Dingen: Einerseits sind auch diese Menschen sehr unterschiedlich. Unter denen mit depressiven Problemen schlafen die einen viel, die anderen gerade wenig, wird der eine Dick und der andere nimmt ab. Manche werden ruhelos und angespannt, andere aber langsam und inaktiv.

Das Zweite ist: Es gibt so viele Überschneidungen mit anderen "Störungen". Viele Menschen mit Depressionen grübeln, doch das ist ein Symptom einer anderen Störung, nämlich der sogenannten Generalisierten Angststörung (GAS). Und so lassen sich viele weitere Beispiele dafür nennen, die meinen Standpunkt unterstützen, dass es Depressionen in diesem Sinne nicht gibt.

Schlüssel zur Besserung in Person selbst

Depressionen werden oft als Ursache für einen Großteil der Krankheitstage oder Arbeitsunfähigkeit angeführt. Ihre Aussage klingt dann etwas komisch.

Peter de Jonge: Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich behaupte keinesfalls, dass es depressive Probleme nicht gibt. Ich kenne diese aus nächster Nähe und will in keiner Weise das Leiden der Betroffenen marginalisieren.

Das kann ich an einem anderen Beispiel verdeutlichen: Denken Sie an "Burn-Out". Viele Hausärzte sind davon überzeugt, dass es so etwas gibt. Im psychiatrischen Diagnosehandbuch DSM kommt die Kategorie aber nicht vor. Bei solchen Bezeichnungen stellt sich die Frage, inwieweit sie die Probleme von Menschen so gut beschreiben, dass Behandlungen daran anknüpfen können. Bei Depressionen hat sich das in den vergangenen Jahrzehnten nicht bewährt.

Ich denke daher, dass die psychischen Probleme der Menschen oft auf falsche Weise beschrieben werden. Die Diagnose "Depression" fügt nichts zu. Im Gegenteil kann sie viel Schlechtes bewirken. Das Stellen einer Diagnose kann bei Menschen etwa den Eindruck erwecken, dass sie eine Störung haben, gegen die sie nichts tun können, so wie bei manchen somatischen Erkrankungen.

Der Schlüssel zur Besserung der depressiven Probleme liegt aber in entscheidendem Maße bei der Person selbst. Tu etwas, um einem Zuviel an Stressreizen vorzubeugen. Schau, was dich glücklich oder nicht glücklich macht, langfristig gesehen. Denk darüber nach, was du mit deinem Leben anfangen willst. Diese Art von Fragen regen wir nicht dadurch an, dass wir über "Depressionen" als Störung sprechen.

Die Störung behindert aber nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die Forschung. In den beinahe vier Jahrzehnten, in denen man schon mit dem Begriff der Depressionen arbeitet, hat man erstaunlich wenig effektive Behandlungen und Wissen um die Ursachen entdeckt.

In Nordamerika verbreitet sich diese Ansicht auch allmählich. Die psychische Welt ist nicht so schwarz oder weiß: Entweder hat man Depressionen oder nicht. Das ist eine Scheindiagnose. Deshalb finden wir auch keine Depressionen in der Population.

Ältere verlieren viel, sind aber nicht depressiver

Wird Ihre Forschung auch schon in der Praxis angewandt?

Peter de Jonge: Das Gesundheitsunternehmen Espria wandte sich mit dem Wunsch an mich, das Wohlbefinden älterer Menschen zu verbessern. Bisher passiert das größtenteils auf der Basis von Forschung über Durchschnittsmenschen. Das Unternehmen wollte nun wissen, ob man den Menschen besser helfen kann, wenn man sich auf Individuen konzentriert.

Mir ist dabei aufgefallen, dass Ältere zwar viel verlieren, etwa Freunde, Familienmitglieder oder Möglichkeiten, etwas zu unternehmen. Das heißt, sie haben eigentlich gute Gründe dafür, sich depressiv zu fühlen. Trotzdem passiert das kaum: Wir konnten keine Hinweise darauf finden, dass ältere Menschen depressiver sind als jüngere.

Daraus ergibt sich die wichtige Frage, wie das sein kann: Wie können ältere Menschen ihre Verluste kompensieren? Die Antwort: Manche können mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen oder unternehmen mehr soziale Aktivitäten, andere finden endlich Zeit für die Dinge, die sie schon lange tun wollten. In jedem Fall richten sich die Menschen auf das, was sie aus ihrem Leben machen wollen, und denken nicht so sehr darüber nach, welche Möglichkeiten sie im Vergleich zu jüngeren Menschen verloren haben.

Nach einem Pilotprojekt mit hunderten Älteren wird in Kürze die fertige App angeboten. Das ist etwas, das mich selbst sehr fröhlich stimmt, denn ich hoffe, dass viele Menschen hiervon profitieren werden. Beispielsweise dadurch, dass sie von sich selbst lernen, was ihre Stärken und Schwächen sind und worin für sie die Quellen ihres Wohlbefindens bestehen.

Biologische Forschung hat viel zu wenig gebracht

Bei psychiatrischer Forschung geht es seit Jahrzehnten vor allem um die vermeintlichen genetischen und neurobiologischen Ursachen psychischer Störungen, um sogenannte Biomarker und mögliche psychopharmakologische Behandlungen. Was hat diese Forschung Ihrer Meinung nach bisher den Patientinnen und Patienten gebracht? Und wie wird das wohl in Zukunft sein?

Peter de Jonge: Diese Forschung hat viel zu wenig gebracht. Und daran wird sich auch nichts ändern.

Ich habe schon über die Diversität der Menschen gesprochen. Die Biomarker (das sind biologische Merkmale, die beispielsweise im Blut oder Gehirn von jemandem gefunden werden können; Anm. d. A.), die Forscherinnen und Forscher in den letzten Jahrzehnten entdeckt haben, erklären so gut wie gar nichts; die Effekte sind viel zu klein.

Mein prinzipielles Argument ist aber, dass es bei psychischen Störungen darum geht, wie sich jemand fühlt. Stellen Sie sich vor, jemand geht zum Arzt und bekommt Folgendes mitgeteilt: "Wir haben in ihrem Blut einen Biomarker für Depressionen gefunden." Aber der- oder diejenige fühlt sich gar nicht depressiv. Was sollten wir in so einer Situation tun? Nein, bei psychischen Störungen geht es darum, wie man sich fühlt, um Emotionen, Gedanken und das Verhalten. Diese bestimmen das Vorliegen eines Problems, nicht das Gehirn oder die Gene.

Sie haben auch eine kritische Meinung über das DSM-5 von 2013, das neue diagnostische Handbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), an dem sich die psychische Gesundheitsversorgung in vielen Ländern orientiert. Was haben Sie gegen das Handbuch?

Peter de Jonge: Die Abkürzung DSM steht für "Diagnostic and Statistical Manual". Das Buch ist tatsächlich aber keines dieser drei Dinge: Es ist nicht diagnostisch, weil es ausschließlich Klassifikationen enthält und nicht erklärt, warum jemand ein Problem hat, also keine Ursachen nennt. Es ist auch nicht statistisch, sondern basiert auf Konsensdefinitionen bestimmter Expertinnen und Experten; nur manchmal werden kleine Anpassungen aufgrund empirischer Daten vorgenommen. Ich nenne dieses Vorgehen die "BOGSAT-Methode". Das steht für: "Bunch Of Guys Sitting Around a Table." Das DSM ist zu guter Letzt auch kein Handbuch, also keine Anleitung, weil darin nicht steht, was für eine Behandlung durchgeführt werden muss.

Das DSM ist vor allem für die Krankenversicherungen wichtig, um etwas über die vermeintlichen Kosten einer Störung aussagen zu können und die Behandlungskosten abzurechnen. Das hilft der Psychiatrie und Psychologie aber beim Verstehen psychischer Probleme kaum weiter.

Nicht nur Probleme, auch Talente sehen

Haben Sie denn selbst eine Idee für eine bessere psychische Gesundheitsversorgung?

Peter de Jonge: Für mich ist es unerlässlich, nicht nur die Probleme, sondern auch die Möglichkeiten und Talente einer Person zu betrachten, indem wir zum Beispiel sagen: "Sie sind zwar ein emotional empfindlicher Mensch, aber gerade deshalb können Sie sich auch gut in andere einfühlen." So eine Vorgehensweise würde auch das Leiden und die Stigmatisierung psychiatrischer Patienten reduzieren. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass viele Klinikerinnen und Kliniker so denken und sich daher auch nicht so gut mit dem Ansatz des DSM identifizieren können.

Schließlich würde ich mir auch wünschen, dass wir uns im Gesundheitswesen vor allem damit beschäftigen, wie man das Leben eines Menschen verbessern kann. Stellen Sie sich vor, zu mir kommt eine Patientin oder ein Patient und ich würde die folgende Frage stellen: "Was ist für Sie das Wichtigste, das Sie in ihrem Leben tun möchten? Was sind Ihre größten Probleme und warum schaffen Sie es nicht, daran etwas zu verändern?" Dafür würde ich gerne maßgeschneiderte Ratschläge geben. So stelle ich mir eine wirkliche "personalisierte Medizin" vor, jedenfalls für die psychische Gesundheitsversorgung.

Peter der Jonge und Stephan Schleim arbeiten beide am Heymans Institut für Psychologische Forschung der Universität Groningen, jedoch in unterschiedlichen Forschungsgruppen. Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors und wurde aus dem Niederländischen übersetzt.