"Es ging und geht um geostrategische Interessen"

Karin Leukefeld über die Geschichte Syriens und die beiden Assads

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Karin Leukefeld ist eine Journalistin, die den Orient aus eigener Anschauung kennt und auch dann in Länder wie Syrien oder den Irak reist, wenn dort Krieg herrscht. Dabei kommt sie oft zu ganz anderen Ergebnissen als das Gros der Kommentare in deutschen Mainstreammedien, die trotzdem immer wieder auf ihre Vor-Ort-Berichte zurückgreifen.

Frau Leukefeld, beginnen wir unser Gespräch mit einer Frage zur geopolitischen Ausgangslage Syriens im 6. Kriegsjahr. Hat dieser Konflikt, der unzählige Menschenleben forderte und große Zerstörungen anrichtete, das ideologische Fundament, auf dem die regierende Baath-Partei ruht, das Konzept des arabischen Nationalismus säkularer Prägung eher gestärkt oder geschwächt?
Karin Leukefeld: Das sind mehrere Fragen in einer. Einmal die Frage nach dem arabischen Nationalismus, dann die Frage nach dem Säkularismus, dann die Frage nach der Baath-Partei.
Das Konzept des arabischen Nationalismus ist unter den politischen Parteien in Syrien seit den 1950er Jahren - als es unter Gamal Abdul Nasser eine politische Union mit Ägypten gab (1959-1962) - umstritten. Angesichts der aktuellen massiven und destruktiven arabischen Einmischung in die ursprünglich innersyrischen Angelegenheiten, angesichts der Bewaffnung von Kampfgruppen usw. sehen sich Syrer, die nicht den Kampfgruppen oder der mit diesen verbündeten Auslandsopposition angehören, in ihrer Mehrheit von den arabischen Staaten eher verraten. Am ehesten dürfte man sich noch mit Ägypten verbunden fühlen, das sich um Vermittlung bemüht.
Das Konzept des Säkularismus in Syrien ist nicht allein ein Konzept der Baath-Partei, es ist ein Konzept, das parteiübergreifend von den Syrern seit ihrer Unabhängigkeit 1946 für richtig gefunden und respektiert wird. Das betrifft auch politische Gegner der Baath-Partei, beispielsweise die kurdischen Organisationen im Norden des Landes. Alle religiösen und ethnischen Minderheiten und eine große Zahl der sunnitischen Muslime in Syrien lehnen den politischen Islam ab. Die einzige Partei, die den Säkularismus ablehnt, ist die Muslimbruderschaft - die in Syrien verboten ist - und die aus ihr hervorgegangenen islamistischen Kampfgruppen. Diese Gruppen streben ein islamisches Kalifat in Syrien an.
Dann die Frage nach der Baath-Partei, die den aktuellen Konflikt bisher überlebt hat. Es gibt m.W. innerhalb der Partei starke Widersprüche. Es gibt Reformer, Kritiker hinsichtlich des Umgangs mit dem aktuellen Konflikt. In diese Debatten habe ich keinen Einblick.

Panarabismus

Ist der Panarabismus, der ursprünglich eine Zielsetzung der Baath-Partei war, in der Bevölkerung Syriens noch als wünschenswerte Vision verbreitet?
Karin Leukefeld: Die Idee des Panarabismus ist eine Ideologie, die in den 1950er und 1960er Jahren große Unterstützung hatte. Nicht nur in Syrien. Die Palästinenser, die Ägypter, die Iraker - für sie alle war die Idee des arabischen Nationalismus eine starke Vision.
Das ist lange her. Es gab eine Fülle von Kriegen seither - und es hat sich gezeigt, dass sich die arabischen Staaten (vor allem die Golfstaaten) an das westliche Lager, an die USA, an die NATO anlehnen. Diese Haltung wird in Syrien - egal ob Baath-Partei oder nicht - mehrheitlich abgelehnt. Die Ideologie der Baath-Partei aus den 1950er Jahren, die vor allem die Jugend in den Städten angezogen hatte, ist zwar verblasst, aber die Ideen der Unabhängigkeit, des Säkularismus, der arabischen Solidarität - vor allem mit den Palästinensern - haben in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin Bestand.
Als Beispiel möchte ich auf die Aufnahme von einer halben Million Palästinenser in Syrien seit 1948 hinweisen, die rechtlich den Syrern weitgehend gleichgestellt waren. Auch die Aufnahme von 1,5 Millionen irakischer Kriegsflüchtlinge und von hunderttausenden libanesischen Kriegsflüchtlingen (zuletzt 2006) war für die Syrer eine Selbstverständlichkeit. Selbst Kriegsflüchtlinge aus dem Sudan waren in Syrien willkommen. Diese praktische Solidarität hat mit der syrischen Zivilisation und Kultur mehr zu tun, als mit der Ideologie einer Partei.
In Ihrem Buch "Syrien zwischen Licht und Schatten" , beschreiben Sie die Herrschaft von Hafiz al-Assad ab 1971 und von dessen Sohn Baschar ab 2000 als eine Art doppelköpfiges Phänomen: einerseits fortschrittlich um alle Teile der Gesellschaft werbend, andererseits hart und autokratisch im Umgang mit ihren Gegnern, gestützt auf Militär und Geheimdienste. Handelt es sich nicht in Wirklichkeit um ein Herrschaftsinstrument der Alawiten, also einer religiösen Minderheit von etwa 12% der Bevölkerung Syriens, zu der auch Assad selbst zählt?
Karin Leukefeld: Zunächst sind Hafez al-Assad und sein Sohn Baschar nicht zu vergleichen. Das habe ich versucht, in meinem Buch deutlich zu machen. Beide sind völlig unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlicher Ausbildung und Erfahrung. Zudem stehen beide für völlig unterschiedliche Phasen der syrischen Geschichte.
Was beide gemein haben, ist, dass weder Assad Senior noch der amtierende Präsident Baschar al-Assad sich als Herrscher einer Minderheit verstanden haben. Diese Interpretation, die ja auch eine Stigmatisierung einer bestimmten Gruppe darstellt, bedient eine Sicht auf Syrien, die der vielschichtigen und komplexen Realität und Geschichte des Landes nicht gerecht wird.
Syrien lebt in und von seiner religiösen und ethnischen Vielfalt. Ob Mehrheit oder Minderheit, alle gehören zu Syrien und zur Kultur des fruchtbaren Halbmondes. Wenn bestimmte Gruppen aktuell eine besondere Rolle spielen, kann und muss das zuerst aus der Geschichte heraus erklärt werden.
Während der Herrschaft des Osmanischen Reiches und in den Jahrhunderten der vorherigen sunnitisch-muslimischen Herrscher zählten die Alawiten - eine Strömung des schiitischen Islam - zu den Unterprivilegierten. Sie durften Schulen und Universitäten nicht besuchen.
Unter dem französischen Mandat wurden die Alawiten - wie übrigens auch die Kurden - instrumentalisiert, um den starken arabischen Nationalismus in Aleppo und Damaskus zu brechen. Die Franzosen teilten Syrien 1922 in fünf Kleinstaaten auf, darunter war ein Staat für die Alawiten. Sie ermöglichten ihnen den Schulbesuch und eine Karriere in der neuen Armee. So wurde Hafez al-Assad, der als erster seines Dorfes die Oberschule in Lattakia und dann die Militärakademie in Aleppo besuchen konnte, ein Offizier.
Mit der Machtübernahme 1973 sah Assad sich mit vielen Erwartungen seitens der Alawiten konfrontiert. Wie die Kurden Salaheddin nach Damaskus folgten und die Turkmenen während des Osmanischen Reiches sich in Aleppo, Homs und Damaskus niederließen, folgten die Alawiten Assad nach Damaskus. Sie erwarteten und erhielten - wenn auch nicht alle - Arbeitsmöglichkeiten im Regierungsapparat.
Das "Regime", das Hafez al-Assad in den 1970er Jahren nach einer langen Zeit politischer Unruhen und Putschen durchgesetzt hat, war kein Machtinstrument seiner Familie, sondern der Versuch, alle Schichten, alle Gruppen, alle Interessen einzubeziehen: Stämme, Händler, Kleriker, einflussreiche Familien - alle sollten ihre Interessen vertreten können und so zur Stabilisierung Syriens beitragen.
Die Aussage, dass eine Minderheit, die Alawiten, und der "Assad-Clan" Syrien "wie eine Farm" regieren würden - eine häufige Darstellung von Oppositionellen - ist unpolitisch, unhistorisch und soll die syrische Regierung und Baschar al-Assad abwerten. Ja, es gibt Vetternwirtschaft und Korruption - aber nicht nur unter den Alawiten oder der Familie Assad. Von Baschar al-Assad heißt es übrigens, er sei "nicht hungrig", also nicht korrupt. Viele nicht-alawitische Syrer unterstützen ihn, weil er für ein tolerantes, modernes und vor allem für ein säkulares Syrien steht.

Strategische Partnerschaft

"Es geh[e] nicht um Assad - der wird sowieso eines Tages gehen", es gehe darum, das säkulare System zu retten - "für alle Volksgruppen und Konfessionen". Saudis, Türken und Amerikaner hätten dagegen von Anfang an das Ziel verfolgt, "Assad von Iran zu trennen". Dafür sei man einen Pakt mit den radikal-islamischen Salafisten eingegangen - das behauptete neulich der Präsident der deutsch-syrischen Gesellschaft, Dr. Salem El-Hamid. Teilen Sie diese Einschätzungen im Großen und Ganzen?
Karin Leukefeld: Ja, die Geschehnisse in und um Syrien in den letzten Jahren bestätigen das. Allerdings geht es nicht nur um den Iran. Schon vor dem Krieg, noch zur Zeit von Hafez al-Assad, sollte Syrien - nach dem Willen der USA und deren Verbündeten in der Region (Israel und die Golfstaaten) - seine strategische Partnerschaft mit Iran (seit 1979) aufgeben, auf die Golan-Höhen verzichten und die Unterstützung der Palästinenser einstellen.
Die gleichen Forderungen - erweitert um die Forderung, die Hisbollah nicht mehr zu unterstützen - wurden auch an Baschar al-Assad gestellt. Auch von der EU, die ja - basierend auf dem Barcelona-Abkommen von 1995 - mit Syrien ein EU-Assoziierungsabkommen verhandelt hatte. Es geht nicht um "Freiheit und Demokratie" für die Syrer, die waren seit 2000 auf einem guten Weg dahin, man hätte Syrien gut dabei unterstützen können. Es ging und geht um geostrategische Interessen.
War das Ziel, diese Iran-Syrien-Allianz zu schwächen, der Grund dafür, dass der Konflikt von außen angeheizt wurde, durch Waffenlieferungen und Desinformationen?
Karin Leukefeld: Ja, das geht aus einem Bericht des US-Militärgeheimdienstes (Defense Intelligence Agency, DIA) aus dem Jahr 2012 hervor. Darin wird beschrieben, dass die Entwicklung in Syrien "eine deutlich konfessionelle Richtung" einschlage. "Salafisten, die Muslimbruderschaft und AQI (Al-Qaida im Irak) sind die wichtigsten Kräfte, die den Aufstand in Syrien vorantreiben", heißt es weiter. "Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition."
Der DIA prognostiziert für die Zukunft, dass das Geschehen sich "in einen Stellvertreterkrieg" entwickeln und dass sich ein "salafistisches Fürstentum im Osten Syriens (Hasaka und Deir Ezzor)" etablieren könnte. Und weiter heißt es: "Das ist genau das, was die Mächte, die die Opposition unterstützen, wollen, um das syrische Regime zu isolieren." Denn Damaskus werde als "strategische Tiefe" der "schiitischen Expansion" (Irak, Iran) betrachtet. Das "salafistische Fürstentum" oder der "Islamische Staat" war also vom Westen, von der Türkei und den Golfstaaten gewollt, um den Iran zu schwächen. Das ist im Übrigen auch das erklärte Interesse Israels.

"Verantwortlich für das Geschehen in Syrien sind nicht nur die saudischen Petro-Dollars, verantwortlich ist auch die westliche Gier danach"

"Mithilfe des enormen Wohlstands, den unsere Petro-Dollars brachten, haben die Saudis ihre sehr fundamentalistische Version des Islam verbreitet, die zuvor innerhalb der islamischen Welt nur den Status einer Art Sekte besaß. Dadurch - durch die Verbreitung der saudischen Form - hat sich die ganze Natur des Islam zum Nachteil verändert, sagte Salman Rushdie einmal in einem Interview. Würden Sie dieser Aussage zustimmen - und welchen Einfluss haben saudisch-wahabitischen Strömungen auf den Verlauf des syrischen Konflikts?
Karin Leukefeld: Salafisten und Wahabiten sind nur die Spitze des Eisbergs. Darunter liegt die Idee des politischen (sunnitischen) Islam und des Krieges um ein Kalifat, des Dschihad. Beides wird sowohl von den Wahabiten und den Salafisten als auch von der Muslimbruderschaft propagiert. Das ist der Nährboden, auf dem Gotteskrieger gedeihen.
Der Wahabismus entstand auf der arabischen Halbinsel im 18. Jahrhundert, die Muslimbruderschaft Ende der 1920iger Jahre in Ägypten. Beide Strömungen beeinflussen heute direkt oder indirekt Regierungen verschiedener Länder. Saudi-Arabien, die Emirate, Katar und Kuwait werden von Salafisten und Wahabiten regiert. Katar hat zudem eine enge Partnerschaft mit der Muslimbruderschaft, deren nationale Ableger sie in verschiedenen Ländern fördert und unterstützt. Auch in Syrien und in der Türkei (Regierungspartei AKP und Präsident Tayyip Erdoğan).
Diese Länder (Saudi-Arabien, Katar, Türkei) sahen sich als Sieger des "Arabischen Frühlings" und wurden von Europa, den USA und der NATO darin bestärkt. Der Angriff auf das säkulare Syrien war zudem lange geplant. Wir wissen das von Korrespondenzen der US-Botschaft in Damaskus (2004-2007), die von Wikileaks veröffentlicht wurden.
Seit der Unabhängigkeit (1946) gibt es einen Konflikt zwischen dem Säkularismus und dem politischen Islam. In den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre wurde der Konflikt bewaffnet ausgetragen und endete 1982 mit dem Massaker von Hama, der Zerstörung der Altstadt und dem Verbot der syrischen Muslimbruderschaft bei Todesstrafe. Das hinterließ eine tiefe Wunde in der syrischen Gesellschaft, die auch eine politische Schwäche war.
Dieses "Trauma von Hama" wurde 2011 von den o.g. Staaten (Saudi-Arabien, Katar, Türkei) gnadenlos ausgenutzt und militärisch und medial geschürt. Die ersten Waffenlieferungen, dokumentiert in einer Langzeitstudie von der New York Times, kamen genau aus diesen Ländern. Mit Wissen und Unterstützung der USA, Europas und der NATO.
Die Idee des politischen Islam finden wir heute auch in Europa, auch in Deutschland. Warum? Weil dieses Gedankengut von den reichen Golfstaaten und von der Türkei finanziell und ideell gefördert wird. Europa und Deutschland hofieren die Golfmonarchien und die Türkei wirtschaftlich und militärisch und ermöglichen ihnen weitreichende Investitionen und Einflussnahme in Deutschland. Verantwortlich für das Geschehen in Syrien sind also nicht nur die saudischen Petro-Dollars, verantwortlich ist auch die westliche Gier danach.
Als einziger arabischer Staat unterstützte Syrien im ersten Golfkrieg, trotz aller ideologischen Schranken, den nichtarabischen Iran, der zudem auch noch von einer schiitisch-theokratischen Führung regiert wurde und sich im Krieg mit dem Baath-Regime von Bagdad befand. Inwieweit erklärt diese damalige Verbundenheit die heutige Nähe zwischen Teheran und Damaskus?
Karin Leukefeld: Syrien ging 1979 eine strategische Partnerschaft mit Iran nach der Islamischen Revolution ein. Der Grund war, dass Syrien von Verbündeten der USA und der NATO umgeben war: Türkei, Israel, Jordanien, Saudi-Arabien und dem Irak, der damals massiv von Großbritannien, Frankreich und den USA aufgerüstet wurde. Syrien befand sich in der Mitte eines politischen Haifischbeckens - und für Hafez al-Assad war das Bündnis seines Landes mit dem Iran (der mit dem Sturz des Schahs aus dem westlichen Bündnis herausgebrochen war) eine Rückversicherung für die syrische Unabhängigkeit, die sonst ja nur von der Sowjetunion unterstützt wurde. Damals wurden zwischen Syrien und dem Iran Abkommen vereinbart, die bis heute Gültigkeit haben und umgesetzt werden. Daher das militärische Engagement des Iran in Syrien. Hinzu kommt auch die Hisbollah, die als militärischer und politischer Machtfaktor im Libanon sowohl für Damaskus als auch für Teheran wichtig ist.

"Die Realität in Ost-Aleppo stimmte ganz offensichtlich nicht mit dem überein, was westliche Medien über die Stadt berichtet hatten"

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das Schicksal der Stadt Aleppo, welches zum Jahreswechsel 2016/2017 die Medienberichterstattung dominierte, aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden ist?
Karin Leukefeld: Westliche Medien und Politiker haben das Geschehen in Aleppo Ende 2016 ja als "Niederlage" beschrieben. Es war die Rede vom "Fall" von Aleppo. In Aleppo aber feierten mehr als eine Million Menschen die Befreiung der Stadt. Zehntausende waren aus dem Osten der Stadt den syrischen Truppen und deren Verbündeten geradezu entgegengeflohen, um sich vor den bewaffneten Gruppen in Sicherheit zu bringen.
Etwa 35.000 Menschen, darunter tausende Kämpfer und mehr als 100 ausländische Offiziere, die den Kämpfern geholfen hatten, wurden nach Idlib evakuiert. Es war also ein verhandeltes Ende der bewaffneten Gruppen in Ost-Aleppo, sie wurden nicht abgeschlachtet. Dann wurden dort jede Menge Waffen, auch aus den USA und Deutschland, gefunden. Munition, Folterkeller, Tote, Sprengfallen, Minen - die Realität in Ost-Aleppo stimmte ganz offensichtlich nicht mit dem überein, was westliche Medien über die Stadt berichtet hatten. Da schwieg man lieber.
Die Befreiung der Stadt sei ein "positiver Schritt hin zu einer Lösung jenseits von militärischer Gewalt", erklärten Sie Ende des vergangenen Jahres bezüglich des Schicksals von Aleppo, nachdem die Regierungstruppen dort Einzug hielten. Gilt das auch noch heute, einige Monate später?
Der Abzug der Kampfgruppen bedeutet natürlich immer das Ende einer bewaffneten Konfrontation, das kann man aus Sicht der Bevölkerung nur positiv bewerten. Auch die syrische Armee und deren Verbündete haben ihre Präsenz in Aleppo verringert. Ich komme eben von einem längeren Aufenthalt aus Syrien zurück und war im April zwei Mal in Aleppo. Die Menschen kehren in ihre Stadtteile zurück, sehen nach ihren Wohnungen und Geschäften, räumen auf, reparieren.
Ich habe mit Männern gesprochen, die dazu den Sand aus den Sandsäcken des Sakaria-Krankenhauses - das die Kampfgruppen in "Al-Quds-Krankenhaus" umbenannt hatten - nehmen. Sie haben die Sandsäcke aufgeschnitten und reparieren mit dem Sand ihre zerstörten Balkone, Wände, Treppen. Es gibt wieder Wasser, die Stromversorgung wird repariert, vor allem müssen die Menschen keine Angst mehr haben, wenn sie durch die Straßen laufen.
Natürlich ist sehr viel zerstört, viele haben Schreckliches erlebt. Verschiedene Personen, die ich interviewt habe, begannen zu weinen, als ich nach ihren Erlebnissen fragte. Aber Aleppo atmet, die Menschen wollen ihr Leben wieder aufbauen.
Es gibt allerdings immer noch Angriffe mit Raketen und Granaten vom Westen her, aus Raschidien, das von der Nusra-Front, einem al-Qaida-Ableger, kontrolliert wird. Erst vor zwei Wochen kam es dort zu einem schrecklichen Anschlag, bei dem weit mehr als 100 Menschen ermordet wurden. Die meisten Toten waren Kinder!
Ziel des Anschlags waren Vertriebene aus den beiden Ortschaften Kefraya und al-Fouah, die zwei Jahre lang von der Nusra-Front und anderen Islamisten belagert und beschossen worden waren. Diese Menschen wurden im Rahmen eines "Vier-Städte-Abkommens" evakuiert, im Gegenzug wurden Kämpfer aus Zabadani und Madaya (im Umland von Damaskus) nach Idlib gebracht.
Fünf Busse der Vertriebenen aus Kefraya und al-Fouah brannten aus, es war eine Tragödie. Ein Bekennerschreiben der Armee des Islam tauchte auf deren Webseite auf. Darin hieß es, man werde die "Ungläubigen" angreifen, wo immer sich die Gelegenheit böte. Diese "Ungläubigen" sind schiitische Muslime. Das Schreiben wurde später von der Webseite wieder entfernt. Es bleibt also unklar, welche der islamistischen Kampfgruppen diese Menschen getötet hat.
Hier sei die Frage gestattet, warum das Entwicklungshilfeministerium in Berlin und andere europäische Regierungen Hilfe in Milliardenhöhe an eine syrische Opposition in Idlib, im Westen von Aleppo und nördlich von Hama bezahlen, die von der Nusra-Front und anderen islamistischen Gruppen kontrolliert wird.
Die Nusra-Front gilt international als "Terrorgruppe" und wird mit Waffen aus der Türkei versorgt, die von den Golfstaaten bezahlt und aus europäischen Rüstungsfirmen geliefert werden. Wohin geht wohl die "humanitäre Hilfe", die aus Europa über die Türkei nach Idlib geschickt wird? Die Menschen in Aleppo dagegen erhalten keine Hilfe aus Deutschland und Europa. Im Gegenteil, sie sind einem EU-Wirtschaftsembargo unterworfen, weil sie in dem Gebiet leben, das von der syrischen Regierung kontrolliert wird. In Deutschland und Europa wird diese Regierung dämonisiert.

Giftgas

Inwieweit haben die US-Angriffe von Anfang April die Verteidigungsfähigkeit der syrischen Armee massiv eingeschränkt und dem IS genutzt? Die erwähnten Angriffe wurden mit dem Einsatz von Giftgas begründet, das angeblich von der syrischen Armee verwendet worden sein soll. Dieser Tage ließ das französische Außenministerium verlautbaren: Der Sarin-Einsatz Anfang April trägt zweifellos "die Handschrift des Regimes" in Damaskus. Was halten Sie von solchen Verlautbarungen - und was für eine Strategie steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Karin Leukefeld: Syrien ist ein Entwicklungsland und die syrische Armee war ohnehin schwach und nicht auf einen solchen Krieg, einen Abnutzungskrieg, eingestellt. Die USA und deren Verbündete haben die syrische Armee von Anfang an bekämpft. Zu den ersten Opfern des Krieges gehörten syrische Soldaten, deren Bus im April 2011 bei Tartus angegriffen wurde. Und syrische Soldaten, die bei Jisr as-Shughour im Juni 2011 ermordet wurden.
Die Angriffe erfolgten zunächst indirekt und mit Waffen, die man den bewaffneten Gruppen lieferte. Mit Ausbildung, mit Logistik - von NATO-Schiffen im Mittelmeer, auch von einem deutschen Schiff - wurde der Funkverkehr der syrischen Armee abgehört und an die bewaffneten Gruppen weitergeleitet, bis Russland das mit eigener Technologie stoppte.
Die militärische Unterstützung der USA, der Türkei, des Westens und der Golfstaaten für die bewaffnete Opposition (Freie Syrische Armee) hat den so genannten "Islamischen Staat im Irak und in der Levante" erst stark gemacht, ebenso die Nusra-Front (al-Qaida), die daraus hervorgegangen ist. Ich habe zuvor den DIA-Bericht erwähnt, der im Herbst 2012 feststellte, dass "der Westen, die Türkei und die Golfstaaten" die Islamisten absichtlich stärkten - mit dem Ziel, den Einfluss des Iran in der Region zu brechen. Das sagt alles.
Der Angriff von Anfang April und die anhaltenden Beschuldigungen, die syrische Armee habe Giftgas eingesetzt, sind Teil dieser Strategie. Natürlich weiß man auch in Washington, dass die syrischen Chemiewaffen ab Ende 2013 unter internationaler Kontrolle registriert, aus dem Lande geschafft und vernichtet wurden. Die USA war mit einem riesigen Spezialschiff im Mittelmeer selber daran beteiligt. Syrien hat keine Chemiewaffen mehr. Und Syrien hat diese auch vor deren Vernichtung nie eingesetzt.
Die Kampfgruppen allerdings verfügen über chemische Kampfstoffe, die aus Libyen über die Türkei nach Syrien geschmuggelt wurden. Es gibt eine Fülle von Berichten darüber. Die syrische Regierung hat den UN-Sicherheitsrat viele Male darüber informiert. Aber die westlichen Politiker halten es aktuell mit dem Motto "Haltet den Dieb", um von der eigenen Verantwortung und den eigenen Plänen in Syrien abzulenken.
Dienlich bei den aktuellen Anschuldigungen gegen die syrische Regierung ist ein israelischer Militär, auf den sich kürzlich sogar der US-Verteidigungsminister James Mattis bezog. Der Israeli will herausgefunden haben, dass Syrien noch drei Tonnen chemische Waffen versteckt habe. Beweise liefert er nicht. Und wegen so einer windigen Aussage soll alles, was zuvor von der UNO - das heißt vom UN-Sicherheitsrat - mit Brief und Siegel bestätigt worden war, unwahr sein? Sicherlich nicht.

"Zugriff auf die Rohstoffe und die Kontrolle von Transportwegen in der Region"

Weshalb scheint man im Westen eher dazu bereit zu sein, eine Herrschaft des IS oder anderer sunnitischer Extremisten zu tolerieren, als das Baath-Regime, wieso überwiegt die Angst vor dem Einfluss Russlands, besonders aber des Iran in der Region - trotz der bisherigen Erfahrungen? Verstehen Sie noch die strategischen Entwürfe, welche sich dahinter verbergen?
Karin Leukefeld: Es geht um den Zugriff auf die Rohstoffe und die Kontrolle von Transportwegen in der Region. Der Mittlere Osten ist - aus westlicher Sicht - nur ein Schritt auf dem Weg hin nach Zentralasien, wo sich noch mehr Rohstoffe befinden. Baschar al-Assad wäre der beste Freund des Westens und der USA, wenn er ihnen wirtschaftlich und militärisch ungehinderten Zugang gewähren, wenn er Katar eine neue Pipeline durch Syrien bauen lassen, einen von Saudi-Arabien unterstützten Salafisten der Islamischen Armee (Mohamed Allousch) zum Verteidigungsminister ernennen, das Verbot der Muslimbruderschaft aufheben, Israel die besetzten Golan-Höhen überlassen und seine strategische Partnerschaft mit Russland, Iran und der Hisbollah sowie die Unterstützung der PLO aufkündigen würde. Kurzum, Baschar al-Assad müsste nur den Regime Change selber vollziehen, dann wäre der Krieg morgen vorbei. Es geht in Syrien um geostrategische Interessen.
Der Einsatz von Religion als Mittel für kriegerische Mobilisierung zur Durchsetzung von Interessen ist alt. Die Idee, den politischen Islam zum Schaden des Gegners zu nutzen, war schon Thema im Ersten Weltkrieg. Der deutsche Archäologe und Geheimdienstmann Max von Oppenheim entwickelte damals eine Strategie, wie die tiefe Gottesgläubigkeit der muslimischen Beduinenstämme militärisch genutzt werden könnte, um die Briten und Franzosen in der Region zu schwächen.
Oppenheim wollte die Muslime zum "Dschihad", zum "Heiligen Krieg", aufstacheln. Festgehalten hat er diese Ideen in einer "Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde". Hat damals nicht geklappt, aber islamistische Söldner gehören seit dem Krieg in Afghanistan zu einer festen Strategie der USA, um muslimische oder multireligiöse Staaten, die sich der US-Hegemonie nicht unterordnen wollen, zu destabilisieren. Nachzulesen bei Zbigniew Brzezinski: "Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft" ["The Grand Chessboard"].
Hegen Sie die Hoffnung, dass jenes Syrien, welches in früheren Zeiten unzählige Besucher begeisterte, jenes Syrien als Wiege von Hochkulturen und ethnoreligiöser Vielfalt, flankiert von der Gastfreundschaft seiner Bewohner, noch nicht verloren ist?
Karin Leukefeld: Hätte man die Syrer ihren inneren Konflikt miteinander lösen lassen, hätte man sie dabei unterstützt, anstatt sie gegeneinander aufzuwiegeln, es wäre nie so weit gekommen. Für die Zerstörung Syriens sind die bewaffneten Gruppen und natürlich auch die Regierung verantwortlich. Aber letztlich sind es die regionalen und internationalen Akteure, die Syrien zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges gemacht haben, mit dem die Syrer selber nichts zu tun haben.
Wenn keine Waffen, keine Kämpfer, keine ausländischen Gelder in das Land flössen, könnten die Syrer miteinander einen Weg finden. Wenn die ausländischen Armeen, die sich völkerrechtswidrig in Syrien aufhalten, abzögen, wenn man aufhören würde, den Präsidenten und die Regierung zu dämonisieren, wenn man die politische Isolation, die Wirtschaftssanktionen, beenden würde, wenn man aufhören würde, die Syrer in ethnische und religiöse Gruppen aufzuteilen und gegeneinander zu bewaffnen - kurz: wenn die destruktive ausländische Einmischung aufhörte, dann wäre Frieden in Syrien in einem Jahr möglich. UNO-Vertreter haben das schon 2013 gesagt.
Dass Frieden in Syrien möglich ist, zeigen die Syrer jeden Tag. Trotz der anhaltenden Waffenlieferungen, der Medienkampagnen, der völkerrechtswidrigen Angriffe und Beschuldigungen sind die Syrer entschlossen, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Sie leben weiterhin miteinander, sie helfen sich. Und - auch wenn man das hier nicht gern hören mag - sie werden dabei vor allem von Russland unterstützt.
Seit Anfang 2016 gibt es mehr als 1400 lokale Waffenstillstände, 82.000 Männer wurden in ein staatliches Amnestieprogramm aufgenommen, drei Millionen Menschen konnten in ihre Heimatorte zurückkehren, mehr als 30.000 Gefangene wurden freigelassen. Und diejenigen, die sich besonders stark in den lokalen Versöhnungskomitees engagieren, sind die Frauen, die ihre Männer oder Söhne in diesem Krieg verloren haben. Auf beiden Seiten. Das ist Syrien, so sind die Syrer. Sie sind auf der Suche nach Frieden mitten im Krieg. Freundlich zu denen, die in guter Absicht kommen. Hart gegenüber denen, die Syrien zerstören wollen.

Dieses Interview ist ein Auszug aus Ramon Schacks eBook: Zeitalter des Zerfalls- Gespräche zu Entwicklungen unserer Epoche.

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