"Es ist der Traum von kollektiver Verantwortung füreinander"
Seite 4: "Und dann haben wir auch einfach mal Bock, zu Beyoncé zu tanzen und über die neusten Modetrends zu diskutieren"
- "Es ist der Traum von kollektiver Verantwortung füreinander"
- "Es ist fatal zu denken, dass eine Frau per se menschenfreundlicher ist"
- "Berlin wird eine Stadt, in der nur noch reiche Menschen wohnen können"
- "Und dann haben wir auch einfach mal Bock, zu Beyoncé zu tanzen und über die neusten Modetrends zu diskutieren"
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Habt ihr denn Vorbilder in eurem feministischen Kampf und selbstbestimmten Leben? Auch aus der Popkultur?
Liebig34: Ach, da gibt es so viele. Wir reden und idealisieren so häufig feministische Kämpfer*innen, seien es Partisan*innen, Schriftsteller*innen oder auch einfach mal eine Popsänger*in. Da können wir nicht von dem einen Vorbild reden. Uns inspirieren und empowern echt einige Menschen. Sich historisch mit feminist*ischen und revolutionären Kämpfen auseinanderzusetzen, gibt uns auch Hoffnung und Mut. Und dann haben wir auch einfach mal Bock, zu Beyoncé zu tanzen und über die neusten Modetrends zu diskutieren.
Der Neonazi-Mord an der Sex-Arbeiterin Beate Fischer in der Berliner Residenzstraße war reine Barbarei von Cis-Männern ... Warum lernen Cis-Männer nicht daraus?
Liebig34: Es war eine Barbarei von Neonazis. Femizide werden immer unsichtbar gemacht. Es wird von Beziehungstaten und Einzelfällen geredet. Aber dass dies Resultate von einem auf Gewalt basierten System sind, kommt selten. Cis-Männer werden vom System in eine unterdrückende Rolle gestellt und Morde wie diese sind Ausdruck dieser Gewalt. In anderen Kontexten ist das ein viel größeres Thema, zum Beispiel in Mexiko gibt es regelmäßig kraftvolle Proteste gegen diese Femizide.
"In Lateinamerika gibt es andere Möglichkeiten und eine lange Tradition feministischer Kämpfe"
Der Anarchafeminismus ist in Südamerika, aber auch in Süditalien und Südspanien recht verbreitet und sehr kraftvoll und wütend. Wie erklärt Ihr euch das?
Liebig34: Wir leben in einem kapitalistisch weit fortgeschrittenen Staat, mit einem klaren Fokus auf Law&Order. Möglichkeiten für anarchistische Selbstorganisierung und Lebensräume werden auf ein Minimum reduziert. Auch in Berlin. In Lateinamerika gibt es andere Möglichkeiten, aber auch eine lange Tradition antiautoritärer, feministischer und anarchistischer Kämpfe.
Was bedeutet für Euch Anarchafeminismus?
Liebig34: Anarchafeminismus ist kein festgesetzter Begriff und keine festgelegte Theorie. Wir orientieren uns an einem antiautoritären Feminismus, der hierarchiefrei sein soll. Da grenzen wir uns schon von anderen Feminismen ab. Wir leben selbstverwaltet und selbstorganisiert, also ganz nach einem anarchistischen Do-It-Yourself Ansatz. Wir verwalten also auch unser Haus selbst und versuchen, uns so weit es geht ohne Staat zu organisieren.
Ihr wirkt und ihr seid kämpferisch, ihr definiert Feminismus cool ... In Friedrichshain kursieren auch Shirts mit dem lila Schriftzug "Antisexistische Pöbelaktion". Können eigentlich auch Queere bei euch mitwirken oder gar leben, die eher scheu sind und lieber im Hintergrund für Eure Ziele arbeiten, zum Beispiel im Haushalt, wie in matriarchalischen Provinzen Mexikos?
Liebig34: Ich weiß jetzt nicht wie das in den matriarchalischen Provinzen Mexikos ist. Bei uns sind viele verschiedene Charaktere und wir versuchen, die Klischees und gesellschaftlichen Zuschreibungen auch aufzubrechen. Wir sind nicht nur die starken feministischen Kämpfer*innen, sondern auch verletzlich und ängstlich. Im Kampf um die Verteidigung unseres Hauses gibt es auch verschiedene Arbeiten, da ist die emotionale Arbeit, die Sorgearbeit, kreative Arbeit und und und. Das versuchen wir alles gleichwertig zu behandeln und anzuerkennen.
Man/n wirft euch Gewalt vor. Was ist für euch Gewalt und was berechtigter Widerstand gegen das Patriarchat?
Liebig34: Patriarchale Gewalt wirkt tagtäglich auf uns ein. Wir haben eine jahrhundertelange Geschichte von Unterdrückung marginalisierter Menschen hinter uns und auch jetzt passieren unsagbare Dinge. Das alles erfordert Gegengewalt. Es sollte unsere Pflicht sein, gerade auch in diesen düsteren Zeiten, Widerstand zu leisten und aufzubegehren. Solange das Patriarchat nicht zerstört ist, ist Widerstand notwendig.
"Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass "links" zu sein, nicht bedeutet frei von Vorurteilen zu sein"
Was lief in der Geschichte der Linken schief? Warum wurden Frauenrechte oft ausgeklammert? Wobei der Begriff "Frauenrechte" fast schon beleidigend ist, da diese ja selbstverständlich sein sollten …
Liebig34: Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass "links" zu sein, nicht bedeutet, frei von Vorurteilen und Machtstrukturen zu sein. Das zeigt sich sowohl in Bezug auf die Rolle von Frauen*, aber auch in der Bezugnahme auf die Kämpfe und Existenzen von Schwarzen Menschen und People of Color. Selbst in revolutionären Kämpfen haben Cis-Männer die unterdrückende Rollenvorstellung von "der Frau am Herd-der Mann im Kampf" reproduziert. Andersrum erleben wir auch, dass feministische Kämpfe angeeignet werden, anstatt mit den Betroffenen zusammenzuarbeiten. Das war früher so und ist heute so.
Verhaltensregeln für Männer in Lebensräumen von Frauen gibt es ja in vielen FLINT-Projekten berechtigterweise. Welche sind die wichtigsten? Auch Blicke oder kleine Äußerungen können ja Gewalt sein …
Liebig34: Naja, es ist schwer von Verhaltensregeln zu sprechen. Es sind ja häufig Vorschläge, die Cis-Männer ernst nehmen sollten, wenn sie wirklich Verbündete sein wollen. Da ist das Wichtigste auf jeden Fall eine ehrliche Selbstreflektion und Achtsamkeit. Wenn sich ein Typ auf einer Party aufdringlich verhält und mit seinem sexistischen Verhalten konfrontiert wird, sollte er eine solche Kritik annehmen und sich dementsprechend anders verhalten können. Dann wäre ja auch alles ok. Wenn das nicht geschieht, muss dagegen eben vorgegangen werden.
In der Gesellschaft, in der wir leben, die auf Gewaltausübung und Machtdynamiken basiert, üben wir alle auch Gewalt und Macht aus. Das in sich zu sehen und daran zu arbeiten ist nicht nur für Cis-Männer wichtig. Für diese Selbstreflektionen versuchen wir, Rahmen zu schaffen, auch damit wir uns als Betroffene vom Patriarchat sicher und handlungsfähig fühlen.
Welche Verhaltensweisen von Cis-Männern im Alltag sind einfach zum Kotzen? Welche Äußerungen könnt iIr nicht mehr hören? Welche Wörter?
Liebig34: Alltagssexismus ist zum Beispiel immer noch ein Riesenthema. Da kannst du aus einem feministischen Hausprojekt rauslaufen mit einem kurzen knappen Rock und wirst immer noch angebaggert, kommentiert und sexualisiert. Das ist auch unsere Realität und wirft auch echt immer wieder aus der Bahn. Da kommen nicht immer die guten konfrontativen Sprüche, sondern häufig will man sich wieder in sein Schneckenhäuschen verkriechen. Das und so vieles hat uns ja auch dazu gebracht, uns ohne Cis-Männer zu organisieren und Schutzräume mitzugestalten.
"Also kann Anarchismus eigentlich nur feministisch sein"
Der Anarchismus ist in Nordeuropa kaum bekannt - im Gegensatz zu Spanien oder Bolivien etwa. Wie erklärt Ihr euch das?
Liebig34: Anarchismus war und ist in Nordeuropa auch ein Thema, nur vielen Leuten ist nicht bewusst, wo überall anarchistischer Input drinsteckt. Zum Beispiel der Streik als Druckmittel ist jetzt Normalität, ist aber aus einer anarchistischen Analyse entstanden. Der Begriff des Anarchismus wird an vielen Orten unsichtbar gemacht, weil er eine reale Bedrohung ist und war.
Aber wie definiert Ihr denn Anarchismus?
Liebig34: Anarchismus bedeutet, sich abseits von Staat und Kapital zu organisieren und ein Leben aufzubauen, in dem wir kollektiv und selbstbestimmt leben und zusammen aushandeln, welche Bedürfnisse wir haben und was wir als einzelne dazu beitragen, damit diese Bedürfnisse erfüllt werden. Es heißt für uns, alles abzulehnen, was uns unterdrückt, und aufzubauen, was uns davon befreit. Das machen wir jetzt schon konkret, zum Beispiel in unserer kollektive Hausgemeinschaft.
Wir können auch versuchen, das ganz simpel runterzubrechen: Anarchismus ist die Idee einer befreiten Gesellschaft ohne Hierarchien und Autoritäten. Es ist der Traum von kollektiver Verantwortung füreinander und nicht für eine individuelle Befreiung von einzelnen "Gewinnern". Also kann Anarchismus eigentlich nur feministisch sein.
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