"Es mangelt an der Kohärenz eines Fortschrittsprogramms"

Seite 2: "Das Erstarken der kulturellen Linken ist ein Symptom der Schwäche der politischen Linken""

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In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: "(...) das Erstarken der kulturellen Linken ist ein Symptom der Schwäche der politischen Linken". Wie fatal ist dies für die Entwicklung von Gegenkräften, welche sich die Überwindung der Arbeitsgesellschaft auf die Fahnen schreiben sollten?

Michael Hirsch: Es ist dies ein Phänomen, das ich als einen linken Ästhetizismus bezeichne; eine seltsam harmlose und akademische, letztlich dekorative Vorstellung politischer Kunst im Sinne eines undialektischen Bezugs kultureller Werke zur aktuellen Weltlage. Spektakulär kam das zum Beispiel bei der letzten Biennale von Venedig zum Ausdruck, als der Kurator Okwui Enwezor von einem Stararchitekten ein sehr schickes Gebäude errichten ließ, von dessen Dach herab dann Das Kapital von Karl Marx gelesen wurde. Man kann solche Tendenzen überall im kritischen Feuilleton beobachten, in Ausstellungskatalogen und Theaterbroschüren, in den Antragsformularen aktueller avancierter Kulturprojekte. Es herrscht eine seltsame Vorstellung eines irgendwie diffus politischen Charakters von Kunst und Kultur vor.

Das ist vielleicht nicht fatal, aber eher hinderlich für die Entwicklung eines starken fortschrittlichen Lagers. Denn im Rahmen eines großen Teils heute dominierender linker Theorien wird mit einem Politikbegriff operiert, der mehr an subversiven Unterbrechungen und Widerstandsgesten gegen das herrschende System orientiert ist als an konstruktiven Fortschrittsperspektiven.

"Neues hegemoniales Projekt ohne parlamentarische Mehrheit"

Macht es noch Sinn, in eine Partei einzutreten? Wo sehen Sie politische, philosophische oder gesellschaftliche Akteure, von denen Sie sich etwas für Ihr Projekt versprechen? Sie haben ja vorhin bereits von den Gewerkschaften gesprochen...

Michael Hirsch: Ich denke, es ist unübersehbar, dass es sehr viele und sehr starke soziale Bewegungen gibt heute; unzählige engagierte Einzelne und Gruppen von Aktivisten. Aber sie sind zersplittert. Woran es mangelt, das ist meines Erachtens eine neue Äquivalenzkette, ein klarer Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen progressiven Forderungen nach politischen Reformen und neuen sozialen Rechten.

Es mangelt an der Kohärenz eines Fortschrittsprogramms. Bisher fehlt ein deutlicher Zusammenhang zwischen den verschiedenen Aspekten des Programms einer radikal emanzipatorischen Form demokratischer Gleichheit: der sozial- und arbeitspolitischen, der geschlechter- und familienpolitischen, der umwelt- und entwicklungspolitischen, schließlich der bildungs- und kulturpolitischen Dimension einer anderen Gesellschaft.

Die Akteure dafür sind alle vorhanden: Gewerkschaften, Frauenbewegung, Studierendenbewegung, Umweltbewegung, Anti-Gobalisierungsbewegung und so weiter. Und eben auch Parteien - es ist ja illusorisch anzunehmen, dass sich ein neues hegemoniales Projekt ohne eine parlamentarische Mehrheit formieren und durchsetzen kann. Insofern ist in meinen Augen in Deutschland zum Beispiel die Arbeit an einem Reformprojekt vordringlich, das dann irgendwann vielleicht als ambitionierte politische und kulturelle Agenda von Rot-Rot-Grün dienen könnte. Klar ist aber: Das wird nicht primär von den Parteiapparaten ausgehen, es muss von den sozialen und intellektuellen Bewegungen der Gesellschaft kommen.

Teil 3 des Gesprächs: Michael Fuchs äußert sich zu Theodor W. Adorno als Hedonisten und Künder einer konkreten Utopie.

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