"Es mangelt an der Kohärenz eines Fortschrittsprogramms"

Michael Hirsch zu den Aporien unserer gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft. Teil 2

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In seinem Buch Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft zeigt der Philosoph Michael Hirsch auf, wie die gegenwärtige Krise aus der Umstellung der politischen Parameter für Arbeit resultiert. Im Gespräch mit Telepolis deutet er diese auch als eine Folge aus der geistigen und politischen Zersplitterung der Linken.

Teil 1: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft

Herr Hirsch, was schlagen Sie vor, um die gegenwärtige Arbeitsgesellschaft zu überwinden?
Michael Hirsch: Meine Antwort ist nicht unbedingt originell: Man kämpft sowohl sozial- als auch tarifpolitisch für eine radikale gesellschaftliche Reduzierung des Arbeitstages, was den Forderungen von starken, aber noch nicht mehrheitsfähigen Strömungen der IG Metall und des DGB entspricht, die meines Erachtens zunehmen. Dies muss aber mit einem Gedanken von André Gorz verbunden werden: Weniger arbeiten, damit alle arbeiten und besser leben können. Man braucht soziale Umverteilung, gleichere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und eine Verhinderung der Exklusionen, die mit der jetzigen Arbeitspolitik der Mehrarbeit, der sozialen Spaltung und Prekarisierung zusammenhängen.
Die zweite, sehr bedeutende Ebene sind die symbolischen Kämpfe und Bedeutungen, die Kämpfe um eine neue Hegemonie. Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft als repressives und anachronistisches Realitätsmodell hängt von der Überwindung der Hegemonie der Erwerbsarbeit ab. Das heißt, die fortschrittliche Politik der Begrenzung und gerechten Umverteilung von Arbeitsmengen, Arbeitsarten und Arbeitsbelohnungen zielt auf eine allgemeine Kulturrevolution ab. Progressive Gesellschaftspolitik ist ohne progresive Kulturpolitik nicht zu haben. In diesem Zusammenhang ist die feministische Dimension der Kritik des herrschenden Arbeitsbegriffs extrem wichtig.
Anstatt aber nur lediglich kritisch und skandalisierend die kapitalistische und androzentrische Glorifizierung von Lohnarbeit anzugreifen, geht es in der konstruktiven Perspektive meines Entwurfs für eine Überwindung der Arbeitsgesellschaft tatsächlich um eine ganz neue Aufteilung sozialer Aufgaben und eine ganz neue Definition ihrer symbolischen Bedeutungen und Anerkennungen.

"Zukünftiges Bündnis von Frauen- und Arbeiterbewegung"

Was heißt das?
Michael Hirsch: Das heißt, dass die allgemeine gesellschaftspolitische Vision einer Humanisierung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsbeziehungen nicht nur sozialpolitisch, sondern auch gleichstellungspolitisch konkretisiert wird: Die zentrale soziale Norm der bisherigen Arbeitsgesellschaft, die Normalitätsvorstellung einer Zentrierung von Lebensweisen und Lebensläufen auf Erwerbsarbeit und die Produktion des für ihre erfolgreiche Verwertung erforderlichen Humankapitals, wird abgeschafft. Sie wird ersetzt durch eine andere Vorstellung normaler Lebensweisen und sozialen Dispositionen, die man bislang noch eher unbeholfen als "weiblich" qualifiziert, und die bislang mit erheblichen biografischen Nachteilen im Erwerbsleben und in derAltersvorsorge verbunden sind.
Die zeitlich und kulturell gleichwertige und gleichberechtigte Teilhabe des Menschen sowohl an wirtschaftlicher Erwerbsarbeit als auch an sozialer, familiärer und politischer Gemeinwesenarbeit wird zur neuen Norm, zum neuen Sozialmodell erhoben. Das bedeutet, dass sich im Rahmen eines solchen Fortschrittsprogramms nicht wie heute Frauen vermehrt der herrschenden männlichen Lebensweise assimilieren müssten, sondern gerade umgekehrt die Männer derjenigen der Frauen. Die entsprechende politische Forderung wäre dann: nicht Steigerung weiblicher Erwerbstätigkeit, sondern die radikale Verringerung männlicher Erwerbsbeteiligung. Hier lässt sich ein zukünftiges Bündnis von Frauen- und Arbeiterbewegung vorstellen.

"Das Erstarken der kulturellen Linken ist ein Symptom der Schwäche der politischen Linken""

In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: "(...) das Erstarken der kulturellen Linken ist ein Symptom der Schwäche der politischen Linken". Wie fatal ist dies für die Entwicklung von Gegenkräften, welche sich die Überwindung der Arbeitsgesellschaft auf die Fahnen schreiben sollten?
Michael Hirsch: Es ist dies ein Phänomen, das ich als einen linken Ästhetizismus bezeichne; eine seltsam harmlose und akademische, letztlich dekorative Vorstellung politischer Kunst im Sinne eines undialektischen Bezugs kultureller Werke zur aktuellen Weltlage. Spektakulär kam das zum Beispiel bei der letzten Biennale von Venedig zum Ausdruck, als der Kurator Okwui Enwezor von einem Stararchitekten ein sehr schickes Gebäude errichten ließ, von dessen Dach herab dann Das Kapital von Karl Marx gelesen wurde. Man kann solche Tendenzen überall im kritischen Feuilleton beobachten, in Ausstellungskatalogen und Theaterbroschüren, in den Antragsformularen aktueller avancierter Kulturprojekte. Es herrscht eine seltsame Vorstellung eines irgendwie diffus politischen Charakters von Kunst und Kultur vor.
Das ist vielleicht nicht fatal, aber eher hinderlich für die Entwicklung eines starken fortschrittlichen Lagers. Denn im Rahmen eines großen Teils heute dominierender linker Theorien wird mit einem Politikbegriff operiert, der mehr an subversiven Unterbrechungen und Widerstandsgesten gegen das herrschende System orientiert ist als an konstruktiven Fortschrittsperspektiven.

"Neues hegemoniales Projekt ohne parlamentarische Mehrheit"

Macht es noch Sinn, in eine Partei einzutreten? Wo sehen Sie politische, philosophische oder gesellschaftliche Akteure, von denen Sie sich etwas für Ihr Projekt versprechen? Sie haben ja vorhin bereits von den Gewerkschaften gesprochen...
Michael Hirsch: Ich denke, es ist unübersehbar, dass es sehr viele und sehr starke soziale Bewegungen gibt heute; unzählige engagierte Einzelne und Gruppen von Aktivisten. Aber sie sind zersplittert. Woran es mangelt, das ist meines Erachtens eine neue Äquivalenzkette, ein klarer Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen progressiven Forderungen nach politischen Reformen und neuen sozialen Rechten.
Es mangelt an der Kohärenz eines Fortschrittsprogramms. Bisher fehlt ein deutlicher Zusammenhang zwischen den verschiedenen Aspekten des Programms einer radikal emanzipatorischen Form demokratischer Gleichheit: der sozial- und arbeitspolitischen, der geschlechter- und familienpolitischen, der umwelt- und entwicklungspolitischen, schließlich der bildungs- und kulturpolitischen Dimension einer anderen Gesellschaft.
Die Akteure dafür sind alle vorhanden: Gewerkschaften, Frauenbewegung, Studierendenbewegung, Umweltbewegung, Anti-Gobalisierungsbewegung und so weiter. Und eben auch Parteien - es ist ja illusorisch anzunehmen, dass sich ein neues hegemoniales Projekt ohne eine parlamentarische Mehrheit formieren und durchsetzen kann. Insofern ist in meinen Augen in Deutschland zum Beispiel die Arbeit an einem Reformprojekt vordringlich, das dann irgendwann vielleicht als ambitionierte politische und kulturelle Agenda von Rot-Rot-Grün dienen könnte. Klar ist aber: Das wird nicht primär von den Parteiapparaten ausgehen, es muss von den sozialen und intellektuellen Bewegungen der Gesellschaft kommen.

Teil 3 des Gesprächs: Michael Fuchs äußert sich zu Theodor W. Adorno als Hedonisten und Künder einer konkreten Utopie.

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