"Es waren die Russen"

Die schleppenden Ermittlungen über das Flugzeugunglück in Smolensk werden zum Politikum und führen zu Verschwörungstheorien

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Vier Wochen sind nun seit dem Flugzeugunglück von Smolensk vergangen, bei dem der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski, seine Ehefrau Maria und 94 weitere Menschen ums Leben kamen. Die Trauer, die das Land in den ersten Tagen nach dem Unglück vereinte (Polen - Land im Ausnahmezustand), jedenfalls bis zu der umstrittenen Idee, die Kaczynskis auf dem Krakauer Wawel zu bestatten, ist wieder dem Blick in die Zukunft gewichen. Die am 20. Juni stattfindenden Präsidentschaftswahlen sind für die nächsten Wochen das bestimmende Thema. Eine wichtige Rolle in dem Wahlkampf wird jedoch die Katastrophe von Smolensk spielen, bei dessen Aufklärung es bisher keine neuen Erkenntnisse gibt. Was dazu führt, dass es immer mehr Verschwörungstheorien gibt, mit denen auch konservative Kreise versuchen, im Wahlkampf Stimmung zu machen.

Adam Bielan ist erst 36 Jahre jung, aber in der polnischen Politik schon ein alter Hase. 1997, damals noch für die heute nicht mehr existierende Wahlaktion Solidarnosc, errang er zum ersten Mal ein Abgeordnetenmandat für den Sejm. In den folgenden Jahren gehörte er einigen konservativen Gruppierungen und Parteien an, bis er 2002 Mitglied der ein Jahr zuvor gegründeten Recht und Gerechtigkeit (PiS) wurde. Was folgte, war eine steile Karriere in der Kaczynski-Partei, in der der Europaabgeordnete wegen seines Wahlkampftalents zu einer festen Größe wurde. Zusammen mit dem heutigen Europaabgeordneten Michal Kaminski leitete er 2005 den Präsidentschaftswahlkampf von Lech Kaczynski.

Absturzstelle. (Screenshot Amateurvideo)

Und auch jetzt, drei Wochen nach dem Tod des Präsidenten, fühlt sich Adam Bielan gegenüber Lech Kaczynski verpflichtet. "Der Befehl zur Landung kam per Fax aus dem Oberkommando der bewaffneten Streitkräfte, und das Einverständnis für diesen Befehl kam vom Verteidigungsminister Bogdan Klich", sagte Bielan in einem Radiointerview vom vorletzten Wochenende zu dem mittlerweile berühmt-berüchtigten Flug Kaczynskis nach Tiflis vom 12. August 2008.

Einen Tag vor diesem Radiointerview beschrieb die Gazeta Wyborcza, wie Lech Kaczynski damals die Piloten zwingen wollte, trotz des russischen Vormarsches und der damit schwer einschätzbaren Lage in der georgischen Hauptstadt zu landen. "Der Präsident kam in die Kabine herein und fragte: Wer ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte? Ich antwortete: Sie, Herr Präsident. Dann bitte ich Sie, den Anweisungen zu folgen und nach Tiflis zu fliegen, sagte der Präsident und verließ die Kabine, ohne eine Antwort abzuwarten", zitiert die liberale Tageszeitung den Flugkapitän Grzegorz Pietruczuk aus dem Untersuchungsbericht der Militärstaatsanwaltschaft. Mit diesem Artikel bekam der Verdacht, Kaczynski könnte auch bei dem Flug nach Smolensk Druck auf die Piloten ausgeübt haben, neue Nahrung. Dies auch deshalb, weil der Pilot der Unglücksmaschine, Arkadiusz Protasiuk, bei dem Flug nach Tiflis als Co-Pilot eingesetzt wurde.

Doch Bielan will solche Mutmaßungen erst gar nicht aufkommen lassen. Der Europaabgeordnete und PiS-Pressesprecher versucht, nicht nur Kaczynski von jedem Verdachtsmoment freizusprechen, sondern die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Soll wirklich Bogdan Klich, der später Grzegorz Pietruczuk für seine "Befehlsverweigerung" auszeichnete, den Befehl zur Landung in Tiflis angeordnet haben? Der Verteidigungsminister widersprach jedenfalls den Äußerungen Bielans und bezeichnete diese als Lüge.

Die Kritik an seiner Person konnte Bogdan Klich damit jedoch nicht abwenden. Ludwik Dorn, einst PiS-Politiker, Innenminister und heute Abgeordneter der konservativen Gruppierung Polska Plus, forderte in der vergangenen Woche mehrmals den Rücktritt von Bogdan Klich. Seine Forderung begründet Dorn aber nicht mit dem Flugzeugunglück von Smolensk, sondern mit der schlechten Ausbildung der polnischen Militärpiloten, für die der konservative Politiker den seit Herbst 2007 amtierenden Verteidigungsminister verantwortlich macht. Der Grund dafür: Der Absturz der Präsidentenmaschine war das vierte Flugzeugunglück, das das polnische Militär seit Januar 2008 zu beklagen hat, mit insgesamt 121 Toten.

Inwieweit dieser Vorwurf, den auch polnische Luftfahrtexperten äußern, zutrifft, ist noch ungeklärt. Unbestreitbar ist jedoch, dass Verteidigungsminister Bogdan Klich im Zuge des Unglücks von Smolensk immer mehr in die Kritik gerät, auch wenn die Vorwürfe von Ludwik Dorn noch die argumentativ plausibelsten sind. Die Behauptungen Bielans, Klich und nicht Kaczynski habe im August 2008 eine Landung in Tiflis angeordnet, widersprechen dagegen dem Untersuchungsbericht der Militärstaatsanwaltschaft, machen aber deutlich, welch eine wichtige Rolle der Tod von Lech Kaczynski und den anderen 95 Menschen bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen spielen wird, bei denen sich Jaroslaw Kaczynski um die Nachfolge seines Zwillingsbruders bemühen wird.

Dass die Katastrophe von Smolensk im Präsidentschaftswahlkampf eine wichtige Rolle spielen wird und dass die nationalkonservative Recht und Gerechtigkeit von ihr zu profitieren versuchen wird, davon gingen polnische Politikexperten schon wenige Tage nach dem Unglück aus. Bestätigt wurde dies spätestens durch die Verkündung der Präsidentschaftskandidatur von Jaroslaw Kaczynski, der seine Entscheidung damit begründete, die "Mission" der Toten von Smolensk vollenden zu wollen. Überraschend ist nur, mit welcher Vehemenz die Regierung von Donald Tusk, vor allem Verteidigungsminister Bogdan Klich, für das Unglück indirekt verantwortlich gemacht wird.

Dürftige Ergebnisse

Möglich wurde diese Kritik durch die schleppenden Ermittlungen, die zwischen den russischen und polnischen Behörden nicht so harmonisch ablaufen, wie es in den ersten Tagen nach dem Unglück den Anschein hatte. Dementsprechend dürftig waren die Ergebnisse, welche die polnische Staatsanwaltschaft vergangene Woche vorstellte. Sie gab lediglich bekannt, dass sie in vier Richtungen ermittelt: der technische Zustand des Flugzeugs, das Verhalten der Besatzung, schlechte Vorbereitung und Absicherung des Fluges durch polnisches und russisches Bodenpersonal sowie die Beteiligung Dritter, also Terroranschlag oder die Einflussnahme des Fluggäste auf die Piloten. Und auch der genaue Zeitpunkt des Absturzes wird von den polnischen Untersuchungsbehörden unter die Lupe genommen. Bisher ging man davon aus, dass die Präsidentenmaschine um 8.56 Uhr MEZ abstürzte. Wie Premierminister Tusk am vergangenen Mittwoch bestätigte, könnte es aber schon 15 Minuten früher zu dem Unglück gekommen sein. Dies geht jedenfalls aus der Untersuchung der Black Boxes hervor, deren Aufzeichnungen um 8.41 Uhr enden.

Absturzstelle. (Screenshot Amateurvideo)

Wie sehr die schleppenden Ermittlungen zum Politikum wurden, zeigte sich am Donnerstag, als Tusk das polnische Parlament über den Stand der Untersuchungen informierte. Dabei musste sich der Premierminister von der Opposition viel Kritik anhören, die aus den Reihen der Kaczynski-Partei PiS besonders laut war. Unüberhörbar dabei war das Misstrauen gegenüber den russischen Untersuchungsbehörden, das in den Reihen der PiS so groß zu sein scheint, dass manche von Tusk gleich alleinige Ermittlungen der polnischen Behörden verlangten. Bei diesem Vorschlag wurde jedoch übersehen, dass das Chicagoer Abkommen allein dem Staat, auf deren Territorium ein Flugzeug abgestürzt ist, die Ermittlungen zuspricht.

Solche skeptischen Äußerungen gegenüber Russland aus den Reihen der Kaczynski-Partei sind jedoch nicht neu. "Wenn man alle Informationen analysiert, die bisher bekannt wurden, auch wenn sie von unterschiedlichen Abläufen des Unglücks berichten, und auch eventuelle Interessen der Russen berücksichtigt, dann kann man sagen, auch wenn aus Mangel an Beweisen ohne hundertprozentige Gewissheit, dass Russland irgendwie für die Katastrophe, für dieses zweite Katyn, verantwortlich ist", sagte der PiS-Abgeordnete Artur Gorski in einem am 12. April veröffentlichten Interview für die Tageszeitung Nasz Dziennik. Für diese Verdächtigungen hat sich Gorski später zwar entschuldigt, doch in den Medien des Redemptoristenpriesters und Radio Maryja-Gründers Tadeusz Rydzyk, der seit Jahren großen politischen Einfluss, wird seit der Katastrophe von Smolensk fast täglich Misstrauen gegen Russland gesät, mit Unterstützung der PiS-Politiker.

Höhepunkt dieser antirussischen Kampagne war die Reportage Solidarni 2010 (dt.: Die Solidarisierten 2010) von Jan Pospieszalski und Ewa Stankiewicz, der Montag vergangener Woche ausgestrahlt wurde. In dem Film kommen Menschen zu Wort, die in den ersten Tagen nach der Katastrophe vor dem Präsidentenpalast in Warschau trauern. Dabei werden auch Mutmaßungen über die Absturzursache geäußert, mit einem simplen Tenor: Die Russen haben Kaczynski umgebracht, mit Wohlwollen der Kaczynski feindlichen Regierung von Donald Tusk und der liberalen Presse, mit der Gazeta Wyborcza an der Spitze.

Nicht zu Unrecht sorgte der Film, der auch noch am Tag der Verkündung von Jaroslaw Kaczynskis Präsidentschaftskandidatur ausgestrahlt wurde, und dies im polnischen Staatsfernsehen TVP, dass seit einem Jahr wieder von der PiS kontrolliert wird, für sehr viel Kritik. Als billige Hetze bezeichneten viele Kritiker den Film und schienen sich in ihrem Urteil nicht zu irren. Schon einmal geriet Pospieszalski in den Verdacht, unseriös zu arbeiten, als man in einem seiner Fernsehbeiträge deutlich zu hören war, wie die Antworten einem scheinbar zufälligen Passanten vorgesagt werden. Und auch Solidarni 2010 scheint nicht unbedingt die Meinung des polnischen Volkes wiederzugeben. Wie einige Tage nach der Ausstrahlung des Filmes bekannt wurde, kamen in dem Film auch zwei Schauspieler zu Wort. "Ein Mensch an dessen Händen Blut klebt (gemeint ist Putin), hat meinen Premierminister umarmt. Meinen Präsidenten hätte er jedoch nie in den Arm genommen", sagte in dem Film Mariusz Bulski, der unter anderem in der beliebten TV-Serie L wie Liebe mitspielte, in der auch der in Polen lebende Steffen Möller mitwirkte.

So ist es nicht erstaunlich, dass bis heute angenommen wird, der Film sei keine Reportage, sondern ein Propagandawerk, obwohl der Schauspieler Bulski bis heute beteuert, in dem Film seine eigene Meinung geäußert zu haben. Nichtsdestotrotz hat am Dienstag auch der Ethikrat für die Medien die Sendung heftig kritisiert.

Doch die Verdächtigungen gegenüber Russland wird diese Verurteilung jedoch nicht stoppen können – und schon gar nicht im Zeitalter des Internets. Dort wird schon seit dem Unglück heftig über die Gründe des Flugzeugabsturzes spekuliert, mit bekannten Verdächtigungen. So behaupten manche, die Russen hätten die Überlebenden der Katastrophe noch an der Absturzstelle exekutiert und berufen sich auf einen Amateurfilm, der gleich nach dem Absturz am Unglücksort gedreht wurde und auf dem angeblich Schüsse zu hören sind. Andere wiederum konzentrieren sich wiederum auf das Wetter und behaupten, die Russen hätten den Nebel verursacht.

Solche Spekulationen kursieren aber nicht nur im polnischen Internet. So erschienen in den letzten Wochen auch auf der Internetseite Kavkazcenter.com, die von jenen Terroristen betrieben wird, die für die jüngsten Selbstmordanschläge auf die Moskauer Metro verantwortlich sind, dieselben antirussischen Berichte. Und in deutscher Sprache bedient sich das Portal Polskaweb.eu. welches sich nach eigener Aussage "durch objektive Recherche, minuziöser Aufarbeit und Publikationen höchsten Anspruches" auszeichnet, der obskuren Verschwörungstheorien. Mittlerweile gehen die in Posen ansässigen Redakteure davon aus, dass der Absturz ein Coup von Geheimdiensten war, von dem Russen, liberale polnische Regierungskreise, russische und polnische Oligarchen, sprich die ganze "Mafia" profitiert.

Die vielen Verschwörungstheoretiker im Internet und die konservativen PiS-Politiker in Polen vergessen nur eine wichtige Frage zu stellen: Was hätten die Russen und die liberale Regierung in Warschau davon, einen Präsidenten umbringen zu lassen, der laut aller Umfragen in einigen Monaten sowieso abgewählt worden wäre?