Eskalation: Russischer Großangriff auf die Ukraine
Luftangriffe auf Kiew, andere große Städte und Regionen. Ziel der "massiven Schläge" (Putin) ist kritische Infrastruktur. Doch wurden auch Zivilisten getötet. Außenministerin Baerbock spricht von Niedertracht und stellt neue Waffenlieferungen in Aussicht.
Russlands Militär hat die "Spezialoperation" ausgeweitet und eskaliert seinen Angriffskrieg in der Ukraine mit einer erhöhten Schlagkraft aus der Luft.
Aus der Hauptstadt Kiew, aus Dnipro, aus Lwiw und anderen größeren Städten sowie aus Orten unweit des Atomkraftwerks Saporischschja werden am heutigen Montagvormittag Explosionen, ausgelöst von Raketen- und Drohnenangriffen, gemeldet. In vielen Landesteilen der Ukraine gebe es Luftalarm, berichten westliche Nachrichtenagenturen und -magazine.
Die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist bis dato noch unbekannt. Allein aus Kiew werden nach ersten Angaben mindestens fünf Tote und zwölf Verletzte gemeldet.
Bewohner*innen von Kiew in Todesangst im Morgenverkehr. Ein Einschlagskrater neben einem Spielplatz. Es ist niederträchtig & durch nichts zu rechtfertigen, dass Putin Großstädte und Zivilisten mit Raketen beschießt. Wir tun alles, um die ukrainische Luftverteidigung schnell zu verstärken.
Außenministerin Annalena Baerbock
Als Ziele der Angriffe werden von ukrainischen wie russischen Quellen wichtige Infrastruktureinrichtungen genannt. Von ukrainischer Seite wird Russland vorgeworfen, dass die Angriffe elf Standorte kritischer Infrastruktur beschädigt haben. Laut AFP gab es zeitweise weder Strom noch heißes Wasser in Lwiw.
Laut dem ukrainischem Ministerpräsidenten Denys Schmyhal sind Teile der Ukraine ohne Strom, die Bevölkerung müsse sich auf "vorübergehende Unterbrechungen der Strom- und Wasserversorgung sowie des Mobilfunknetzes" vorbereiten.
Die Ausweitung der Luftangriffe kommt nicht unerwartet. Nach den Explosionen, die am vergangenen Samstag die Krim-Brücke und damit einen wichtigen strategische und logistischen Verbindungsweg schwer beschädigt haben, galt ein Vergeltungsakt vonseiten Russlands als sehr wahrscheinlich (siehe: Kreml: Krim-Brücke bei Sprengstoffanschlag "beschädigt", nicht "zerstört").
Die russische Führung spricht von einem terroristischen Akt. Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew kündigte Vergeltung an ("Das ist es, was die russischen Bürger erwarten").
In einer Ansprache vor dem russischen Sicherheitsrat erklärte Putin heute, dass die Kiewer Regierung mit Terroristen gemeinsame Sache mache und dass Russland darauf mit massiven Schlägen reagiere, ausgeführt mit Langstreckenwaffen und Raketen, abgefeuert von Land, Luft und See, um die Energieversorgung, militärische und administrative Ziele in der Ukraine zu treffen. Für die Explosion auf der Krim-Brücke macht der Kreml den ukrainischen Geheimdienst SBU verantwortlich.
Wie es Medwedews Äußerung andeutet, dürfte sich nach den Erfolgen der ukrainischen Armee in der jüngsten Vergangenheit der Druck auf die russische Militärführung erhöht haben, mit Gegenreaktionen ihre Schlagkraft vorzuführen.
Eskalationsdominanz mit dem Rücken zur Wand?
Zwar wird im begleitenden Informationskrieg zur militärischen Auseinandersetzung, die schon abertausenden Menschen das Leben gekostet und Unzählige traumatisiert hat, immer wieder von russischer Seite angegeben, dass alles nach Plan verlaufe.
Dennoch dürften die Eroberungen der ukrainischen Armee und Berichte über Rückzugsaktionen der russischen Streitkräfte ihre Spuren im russischen Kommando hinterlassen haben - mit Blick darauf, "was die russischen Bürger erwarten". Die öffentliche Meinung, von der die Unterstützung der Bevölkerung abhängt, ist im Kriegsgeschehen ein wichtiger Faktor. Hier ist die angegriffene Ukraine im Vorteil.
Die von Putin angeordnete Teilmobilmachung kann man als Antwort darauf verstehen, dass sich die Situation nicht wirklich plangemäß gestaltet. Sie erzeugte neuen Druck in der russischen Öffentlichkeit, da sich die Frage nach der Unterstützung der "Spezialoperation" nun für eingezogene Reservisten und deren Angehörige mit einer neuen existentiellen Wucht stellt.
Als die ukrainische Armee vor Wochen mit Offensiven bei Charkiw zeigte, dass sie zu einer überraschenden militärischen Wende fähig ist, reagierte die russische Militärführung mit Angriffen auf die Infrastruktur.
So auch diesmal – so beschreibt etwa der französische Colonel Michel Goya exemplarisch für eine Tendenz unter westlichen Militärexperten eine russische Armee in Schwierigkeiten und eine taktische Überlegenheit der ukrainischen Streitkräfte (am 8. Oktober auf Englisch), aus der er folgert, dass sich Situation für die Russen nur durch eine "tiefgreifende Umgestaltung ihres militärischen Instruments" verbessern könnte.
Weiterhin: Die Zeit der Falken
Noch ist das Ausmaß des heutigen Großangriffs nicht abzusehen. Um 13.38 Uhr soll der Luftalarm in Kiew "nach mehr als fünfeinhalb Stunden" aufgehoben worden sein. Offensichtlich ist, dass sie den Krieg in der Ukraine auf eine neue Eskalationsebene bringt.
Auf Facebook kündigte das ukrainische Verteidigungsministerium laut Nachrichtenagenturen Rache an.
Der ukrainische Präsident Selenskyi forderte in Gesprächen mit Regierungschefs eine Dringlichkeitssitzung der G7, um den Druck auf die Russische Föderation zu erhöhen.
Auch Peking zeigt sich alarmiert. Gewöhnlich sind Kommentare zum aktuellen Kriegsgeschehen selten. Heute aber wird der Sprecher des chinesischen Außenministeriums Mao Ning von Nachrichtenagenturen damit zitiert, dass Bejing hoffe, dass "sich die Lage bald deeskaliert".
Indessen zitiert Le Monde Dmitri Medwedew mit den Worten: "Die erste Episode ist gespielt, es wird weitere geben. (…) Aus meiner Sicht muss das Ziel die vollständige Zerschlagung des politischen Regimes der Ukraine sein."
Ergänzung: Laut Le Monde soll Medwedew, Nummer 2 des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, dies nach einer heutigen Sitzung des Rates gesagt haben. Inzwischen meldet die Nachrichtenagentur Tass, dass Nummer 1 dort gewarnt habe.
Wenn es weiterhin Versuche gebe, "Terroranschläge auf unserem Territorium zu verüben", so der russische Präsident Putin, dann würden die Antworten hart ausfallen. "Die Reaktionen werden das gleiche Ausmaß haben wie die Drohungen gegen Russland. Daran sollte niemand Zweifel haben."