EuGH-Generalanwalt: Scharia-Scheidung ungültig
Diskriminierung von Frauen verhindert Anwendung einer EU-Verordnung
Eine Ehe, die durch ein Scharia-Gericht geschieden wurde, hat in EU-Ländern weiterhin Bestand. Zu diesem Ergebnis kommt Saugmandsgaard Øe, der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, in einer gestern bekannt gemachten Schlusserklärung zu einem Fall mit dem Aktenzeichen C-372/16. Die Schlusserklärung des Generalanwalts ist zwar noch nicht das fertige Urteil (das erst in den nächsten Monaten erwartet wird), allerdings folgen ihr die Luxemburger Richter im Regelfall.
In dem Fall, den das Oberlandesgericht München dem EuGH mit Beschluss vom 2. Juni 2015 vorgelegt hatte, geht es um Raja M., einen in Deutschland eingebürgerten Syrer, der 1999 in seiner Heimat Soha S. heiratete, worauf hin auch diese die deutsche Staatsangehörigkeit erwarb. 2003 verzogen die Eheleute aus Deutschland nach Homs. Seit 2011 lebten sie wegen des dort ausgebrochenen Bürgerkrieges abwechselnd in der Bundesrepublik, Kuwait, dem Libanon und Syrien.
Dreifacher Talaq
Am 19. Mai 2013 ließ Raja M. einen von ihm Bevollmächtigten vor einem nichtstaatlichen Scharia-Gericht in der syrischen Provinz Lakatia den dreifachen Talaq, die islamische Scheidungsformel, aussprechen, worauf hin ihm dieses Scharia-Gericht am Folgetag einen Scheidungsbeschluss mit der Nummer 1276 ausfertigte. Nach Ablauf der vorgeschriebenen Wartefristen und nach dem Empfang einer Abfindung in Höhe von 20.000 US-Dollar unterzeichnete seine Ehefrau am 12. September 2013 eine Erklärung, in der es hieß:
Ich habe alle mir aus dem Ehevertrag und aufgrund der auf einseitigem Wunsch vorgenommenen Scheidung zustehenden Leistungen erhalten und somit befreie ich ihn von allen mir aus dem Ehevertrag und dem von dem Scharia-Gericht Latakia erlassenen Scheidungsbeschluss Nr. 1276 vom 20. Mai 2013 zustehenden Verpflichtungen.
M.s Antrag, diese Scharia-Scheidung in Deutschland anzuerkennen, wurde zuerst nach der EU-Ratsverordnung Nummer 1259/2010 vom 20. Dezember 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts genehmigt. S. focht diese Genehmigung jedoch gerichtlich an, worauf hin das Oberlandesgericht München sich hinsichtlich der Auslegung dieser als "Rom III" abgekürzten Verordnung an den EuGH wandte.
EU-Verordnung gilt nicht für private Ehescheidungen
Dessen Generalanwalt kam nun zum Ergebnis, dass es sich bei einer Schariagerichtsentscheidung nicht um einer behördliche, sondern um eine "private" Ehescheidung handelt, deren Anerkennung durch eine syrische Behörde ein "rein deklaratorischer Akt" war. Deshalb, so Øe, sei die Rom-III-Verordnung hier nicht anwendbar. Selbst wenn man zum Ergebnis käme, "dass private Ehescheidungen unter die Rom III-Verordnung fallen", müsse man den Artikel 10 dieser Verordnung berücksichtigen, "wonach ein Gericht eines teilnehmenden Mitgliedstaats sein eigenes innerstaatliches Recht anzuwenden hat, wenn das grundsätzlich anzuwendende ausländische Recht vorsieht, dass sich der Zugang zur Ehescheidung je nach Geschlechtszugehörigkeit der Ehegatten unterscheidet." Im Scharia-Scheidungsrecht ist eine solche Zugangsbenachteiligung von Frauen seiner Ansicht nach klar gegeben.
Nachdem er zu diesem Ergebnis gekommen war, prüfte Øe, "ob der Umstand, dass der diskriminierte Ehegatte eventuell in die Ehescheidung eingewilligt hat, dem nationalen Gericht erlaubt, das ausländische Recht trotz seines diskriminierenden Charakters […] anzuwenden". "Die in Artikel 10 der Rom-III-Verordnung enthaltene Regel" beruht seiner Interpretation nach jedoch auf "als grundlegend angesehenen Werten", weshalb sie "mit zwingendem Charakter ausgestattet und daher durch den Willen des Unionsgesetzgebers außerhalb des Bereichs gestellt [ist], in dem die Betroffenen freiwillig auf den Schutz ihrer Rechte verzichten können."
Kollision von Rechtsvorstellungen
In Deutschland - aber auch in anderen europäischen Ländern - kommt es immer wieder zu Kollisionen zwischen nationalem und europäischem Recht und religiös geprägten Rechtsvorstellungen von Zuwanderern. Schlagzeilen machte dabei unter anderem die Entscheidung einer Richterin am Frankfurter Amtsgericht, die ein vorzeitiges Scheidungsbegehren einer verprügelten Ehefrau mit Hinweis auf einen religiös fundierten Züchtigungsanspruch ablehnte. Die bekannte Anwältin Seyran Ateş meinte dazu, die Richterin bringe "damit zum Ausdruck, dass in bestimmten Kulturen der Welt Gewalt erlaubt ist und dass dies die Gesellschaft zu akzeptieren hat." Später wurde einem Befangenheitsantrag gegen diese Richterin stattgegeben.