Euphoriker und Analytiker

Das Internet in Budapest

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Tempo, freie Fahrt, Beschleunigung: Wer die Budapester autofahren erlebt, kann sich vorstellen, daß sie auch schnell auf die Datenautobahn drängen. Mehr Informationen schneller übertragen, das ist etwas für die Bewohner der ungarischen Hauptstadt. Zwei der gut zehn Millionen Ungarn leben in Budapest, dem einzigen wirklich urbanen Zentrum des Landes. In dieser Verdichtung breitet sich Neues im Nu aus - vom Handy bis zum Modem.

Im Westen wie im Osten gilt: Mit dem Anschluß ans Netz ist eine Modernitäts-Verheißung verknüpft. Noch immer verspricht es "höher, schneller, weiter" zu kommen. Doch Menschen aus postsozialistischen Transformationsländern sehen im Internet mehr: "Als das World Wide Web vor meinen Augen erschien, da war das ein Gefühl vergleichbar mit meiner ersten Reise in den Westen", so beschreibt Daniel Erdely, Manager des amerikanischen Internet-Servers aDAM, seinen ersten Ausflug ins Netz.

Während im westeuropäischen Durchschnitt vier Prozent der Bevölkerung das Internet nutzen, sind es in Ungarn erst zwei. Nur 0,7% der Haushalte sind angeschlossen. Doch 1997 hat sich die Zahl der ungarischen Netz-Nutzer verdoppelt. Diese Zuwachsraten sind mit denen in Westeuropa vergleichbar. 71,269 Computer sind im Netz registriert. Damit liegen die Ungarn im europäischen Mittelfeld, noch über Spanien und Griechenland. Miklos Nagy, Direktor des "Informations-Infrastrukur-Programms" der ungarischen Regierung, schätzt, daß es 250000 bis 280000 aktive Internet-Nutzer in Ungarn gibt.

Die meisten davon leben in Budapest und nutzen den Internet-Anschluss ihrer Arbeitsstelle. Private oder öffentliche Internet-Zugänge sind eher die Ausnahme - zu teuer vor dem Hintergrund der niedrigen Durchschnittseinkommen. Matav, die ungarische Telefongesellschaft, bietet einen speziellen Surfer-Tarif an: Von abends 22 Uhr bis morgens um acht betragen die Telefongebühren für Surfer umgerechnet eine Mark. Doch den meisten Ungarn kommt das - vor allem wegen der Hardware-Anschaffungskosten - unerschwinglich vor.

"Das Wort ŽDatenhighwayŽ wird mehr in Europa als in Amerika benutzt: Amerikaner wissen, daß ihre Highways nur mit 70 Meilen zu befahren sind." In Ungarn, erklärt Daniel Erdely, könne man aber "getrost von Highway sprechen": ISDN-Leitungen sind eine Seltenheit. "Je nach Standort brauchen die Seiten sehr lange, bis sie aufgebaut sind." Daran ist häufig die schlechte Qualität der Telefonleitungen schuld. Leitungszusammenbrüche sind nicht selten.

Ein "Modernitätsgefühl" stelle sich nur ein, wenn man nach langem Warten schließlich "schon aus Selbstachtung bedeutend findet, worauf man so lange gewartet hat", meint Arpád Soltész, ein ungarischer Journalist. "Spinnweben können sich im Netz bilden, während sich die aufgerufene Seite aufbaut". Er fragt sich, ob "Warten lassen zur demokratischen Kommunikation" gehört. "Ich dachte immer, Schlange stehen und warten sind typisch für den Alltag im Sozialismus". Soltész hatte erwartet, daß sich sein Kommunikationsverhalten im Netz ändern würde. Doch er kommuniziere mit den gleichen Leuten wie vorher, nur mit mehr Aufwand. Deshalb erscheint ihm "Internet so interaktiv und kommunikativ wie ein Bankautomat".

Einerseits sind es die unzulänglichen Rechnerbedingungen, die eine lebendige Netzkultur noch erschweren, andererseits aber auch schlechte Server, die dazu beitragen. Der für Deutsche sprechend anmutende Servername "elender.hu" macht seinem Namen alle Ehre, er ist zwar der billigste, aber auch der unzuverlässigste. Ständige Abstürze und unangekündigte Host-Ausfälle prägen den Surf-Alltag.

Vielfach ist die noch fehlende Effektivität der Internet-Nutzung auch darauf zurückzuführen, daß ein Bewußtsein, mit dem Internet Nutzwert und damit schließlich auch Mehrwert schaffen zu können, noch nicht sehr verbreitet ist. Rudolf Schicker etwa, Chefredakteur der Budapester Wochenzeitung "Pester Lloyd", hält das Internet für "eine Verschwendung von Telefongeld". Da würden plötzlich Recherchen gemacht, die früher niemanden interessiert hätten.

Insgesamt vermittelt die öffentliche Diskussion in ungarischen Zeitungen und Stadtmagazinen jedoch den Eindruck, als ob nur der wirklich modern sein könne, der Zugang zum Netz hat. Ohne Netzanschluß zu leben, das ist so wie das Leben in Totalitarismus und Unfreiheit. An das Phänomen Internet werden vielfach sogar ähnliche Heilserwartungen geknüpft wie vor neun Jahren an die demokratische Wende: Freiheit, Wohlstand und Konsum - ad hoc und für alle.

Öffentlich ist diese Freiheit in vier Internet-Cafes zugänglich. Das Erscheinungsbild dieser Cafes bewegt sich zwischen hemmungslosem Modernismus und der Integration in ein typisches Kaffeehaus-Ambiente. Digitalen Dynamismus verkörpert das Internet-Cafe www.plazaclub.com. Es ist Teil des Donau-Plaza in Budapest, einem gigantischen Einkaufspalast. Wie ein riesiger Plastikbecher sieht das Gebäude aus: den Becherrand bilden die Etagen, der Becherboden ist eine runde Eis-Fläche, auf der Schlittschuh gelaufen wird.

Eine riesige Arnold Schwarzenegger-Homepage im Schaufenster verweist auf "www.plazaclub" - exklusiv wie ein Club sind auch die Preise: Eine halbe Stunde kostet 400 Forint, das sind vier Mark. Für ungarische Verhältnisse sind das horrende Preise. Und darum sind Ausländer hier oft unter sich. Wie ein ungarisches Restaurant ist das Cafe eingerichtet: Schwere Eichentische und ein gediegenes Ambiente. Die 16 Terminals sind durch Stellwände aus schwerem Massivholz voneinander abgetrennt - Diskretion garantiert. Doch bei der Cafe-Frage erscheint "File not found" auf dem Gesicht des Internet-Scouts.

Eine ungewöhnliche Integration des neuen Mediums in ein eher klassisches Budapester Kaffeehaus versucht das "Eckermann". Eine der Cafe-Gründerinnen, die 26jährige Budapesterin Ágnes Fekete meint, daß der Internet-Anschluß ein Service sei, der eng mit dem klassischen Kaffeehaus verknüpft sei: "Immer wollen sich die Menschen veröffentlichen. Um die Jahrhundertwende hatte man seinen öffentlichen Auftritt im Kaffeehaus. Für viele war das sogar der Lebensmittelpunkt. Heute ist Internet die elektronische Variante der öffentlichen Selbstdarstellung."

Am Anfang hatten die Kaffeegründer Bedenken, daß alles einen technischen Anstrich bekommen würde. Das war unbegründet. Im Gegenteil, das Eckermann profitiert von den Terminals. Weil sie vom deutschen Goethe-Institut bereitgestellt werden, ist die Nutzung kostenlos. Und bald schon bestand ein so großer Andrang, daß die wöchtenliche Benutzerzeit pro Person auf eine Stunde reglementiert wurde. Das "Eckermann" ist nach dem "berühmten Schreibsklaven" Goethes benannt. "Schon der Name soll andeuten, daß man hier Sachen erledigen kann, die sonst in Büros gemacht werden", so Ágnes Fekete.

Traditionelle Kaffee-Haus-Kultur und Internet-Service müssen nicht zwangsläufig Widersprüche sein, meint auch Bosa Farkas, Kellner im Eckermann: "Früher gab es enorm viele Zeitungen in Kaffeehäusern, nach Möglichkeit war da die ganze Weltpresse. Das Internet ist heute die erweiterte Weltpresse, insofern muß es im Kaffeehaus akzeptiert werden". Edit Király ist Stammgast und schreibt im Eckermann eMails: "Briefeschreiben ist eine typische Kaffeehaus-Beschäftigung". Das sei zwar nicht sehr kommunikativ, räumt sie ein. "Wenn der Computer stört, dann muß man ihn ausmachen, so wie man auch eine Zeitung weggelegt hat, wenn man sich unterhalten wollte." Meist fühlten sich aber nur die gestört, die sich nicht mit dem Internet befassen. "Ins Netz zu gehen, schafft eine größere Gelassenheit".