Europa: Der dritte mögliche Pol?

Seite 2: Wo ist das europäische Projekt?

Denn, was Macron etwas abgehoben, versucht, ist ein europäisches Projekt zu formulieren. Es gibt ein US-amerikanisches Projekt, das mit einem wirtschaftlichen Dominanzstreben auch gegenüber Europa (siehe aktuell z.B. Inflation Reduction Act) einhergeht, ein russisches Projekt und ein chinesisches Projekt, im Französischen wird das gerne größer gefasst mit "récit", Erzählung).

Macron sucht ein solches für Europa. Gibt es einen anderen Politiker in Europa, der das versucht? Die Kritik an seinen Äußerungen kommt aus der zweiten Reihe. Nicht alle denken so. Unterstützung in der grundlegenden Ambition gibt es zum Beispiel vom EU-Ratspräsidenten Charles Michel.

Die Position des französischen Politikers sei unter den EU-Staats- und Regierungschefs "kein Einzelfall" sei. Seine Ansichten würden einen zunehmenden Wandel unter den EU-Staats- und Regierungschefs wiederspiegeln, zitiert ihn heute Politico.

Auch das Tempo der Berichterstattung ist immer wieder mal das Tempo von Getriebenen, für einen historischen Horizont bleibt da wenig Zeit. Macron eignet sich sehr gut für Entrüstung, er bietet mit seinen Alleingängen innen- wie außenpolitisch viele einfache Angriffsflächen.

Seine Idee, große innenpolitischen Schaden außenpolitisch wettzumachen – mit Positionen, die für Frankreich geradezu klassisch sind (auf Distanz zu den USA, mit einer eigenen Außenpolitik zu China) – ist schiefgegangen. Das Timing war schlecht.

Der Blick auf den größeren Zeithorizont, auf längerfristige Entwicklungen ist es aber nicht.

Und die Positionen des Westens sind nicht so kohärent, wie man es in der moralischen Werte-Debatte zum Soll erklärt:

Je unschärfer die politische Topografie des "Westens" erscheint, desto leidenschaftlicher wird in der öffentlichen Debatte moralische Selbstvergewisserung betrieben. Unter dem Eindruck des russischen Angriffs wächst der Wunsch nach mehr Druck, härteren Sanktionen, klarerer Kante gegenüber Ländern wie Iran oder China. Nur sind auch dies, zugespitzt formuliert, die prominentesten unter den Diktaturen, während weniger exponierte Schurkenstaaten weiterhin ganz gut wegkommen.

Sonja Zekri, SZ