Europa gegen England
Vor dem EM-Finale: Der Gewinner wird Europameister
Auch Sport sollte den Charakter junger Männer formen, um über ein Imperium zu herrschen.
David Goldblatt, britischer Publizist
Wir spielen mit Spaß, damit die Italiener Spaß haben. Sie haben es verdient, nach all dem Leid.
Roberto Mancini, italienischer Nationaltrainer
Sport, Macht, Wirtschaft und Gesellschaft sind seit über 150 Jahren ein inniges Geflecht; der Sport ist Labor und Kondensat, Spiegel und Medium zugleich. Wie die Olympischen Spiele, so sind auch Fußballturniere ein Schauplatz für das gesellschaftliche Ringen um Emanzipation und Teilhabe und für den politischen, ökonomischen und kulturellen Wettkampf zwischen Nationen und Kontinenten.
Der Sport ist ein Schauplatz der Eroberung öffentlichen Raums durch neue gesellschaftliche Gruppen, durch neue Diskurse. Er ist grundsätzlich von einer großen sozialen Offenheit geprägt, von relativer Durchlässigkeit im Vergleich zur Undurchlässigkeit anderer Gesellschaftsbereiche. Sport war auch eine der wenigen Bühnen, auf denen während des Kalten Kriegs der Ostblock mit dem Westen gleichziehen oder ihn sogar überholen konnte.
Gegen alle Wahrscheinlichkeit
Bereits in der Nacht zu diesem Sonntag trafen mit Brasilien und Argentinien im Finale der Copa America die zwei führenden Fußballnationen des Kontinents aufeinander. Argentinien gewann mit 1-0 und befreite sich vom Fluch einer 28-jährigen Serie ohne Titel und seinen Superstar Lionel Messi von der Belastung, mit der "Albiceleste" noch titellos zu sein.
Auch im heutigen Duell zwischen England und Italien sollen Serien gebrochen werden: Italiens Erfolglosigkeit bei der EM seit 1968, England internationale Titellosigkeit seit dem WM-Sieg 1966. Auch der fand in Wembley statt. Und so ist es eigentlich eine offenkundige, himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass die englische Mannschaft nicht nur sämtliche Vorrundenspiele im eigenen Londoner Wembley-Stadion austragen durfte, sondern auch noch das Achtelfinalspiel, das Halbfinale und jetzt das Finale.
Im Duell zwischen England und Italien kann man auch viel Tradition entdecken. England, das immer noch und historisch korrekt als "das Mutterland des Fußballs" gilt, tritt hier gegen Italien an, das den Fußballsport in den 1920-er und 1930er-Jahren entscheidend erneuerte und nicht ohne Grund 1934 und 1938 Weltmeister wurde.
Der große Erfolg der englischen Mannschaft bei dieser EM ist ein Erfolg "against all odds", gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ein Erfolg des Willens gegen die Wirklichkeit, der Freiheit gegen das Schicksal. Insofern spricht auf den ersten Blick vieles dafür, mit den Engländern bis zum Ende zu sympathisieren. Die englische Mannschaft könnte auch dadurch Sympathien wecken, dass sie Diversität deutlicher zur Schau trägt.
Sie ist dabei zugleich vor allem ein Abbild kolonialer Vergangenheit und auch eine Erinnerung an das Empire einerseits, andererseits an die Fußballgeschichte, die noch zu viktorianischen Zeiten eine Geschichte der Disziplinierung der Unterschichten durch das Spiel war.
Aber was jetzt wie ein Aufstand des Gefühls gegen die Vernunft aussieht, ist tatsächlich überaus rational und pragmatisch orchestriert. Und rational ist es auch erklärbar: Die Vorrundengruppe war leicht, der Achtelfinalgegner Deutschland zwar die Nemesis der englischen Fußballgeschichte der letzten 50 Jahre, zugleich aber selbst in einer desaströsen Verfassung und narzisstisch im Löw-Gefängnis gefangen.
Man wird sehen, ob England trotzdem an diesem Abend die eigene Hybris im Weg steht. Denn, wie die Welt treffend schrieb:
"Englands Fußball gehört zum einfältigsten, was man bei diesem Turnier sehen kann. Nach einer kurzen Startoffensive wird zunächst einmal Rhythmus verschleppt bzw. am besten ganz verhindert."
Land der Illusionen
Politisch und gesellschaftlich gesehen ist England das Land mit dem kürzesten Gedächtnis Europas. Ein Land der Lüge und des Erinnerungsverlusts. Letzterer maskiert sich mit allerlei historischen Ornamenten, die vorgeblich die Erinnerung pflegen. Es ist aber eine höchst einseitige selektiver Erinnerung, die die Uniformen das verlorenen britischen Empires trägt und dessen Rituale nostalgisch zelebriert.
England ist heute ein Land der Illusionen. So wie die Schäden des Brexits für Wirtschaft und Menschen auf der Insel kaum diskutiert werden, so wie auch die Korruptionsfälle innerhalb der Regierung, die Aushöhlung des Rechtsstaats und die Lügen des Premierministers nur die wenigsten interessieren. Diejenigen, die glaubten, Boris Johnson wäre ein kurzes Intermezzo der englischen Politik, ein Epigone von Donald Trump, haben sich getäuscht. Er war der Amateur, Johnson ist der Profi der rechtspopulistischen Trumpismus-Politik.
Zu dieser gehört ein neuer vulgärer Nationalismus, der im Zuge der Brexit-Kampagne angeheizt wurde und bis heute wirkt. Er verbindet sich mit den nostalgischen Sehnsüchten der Konservativen nach einer Rückkehr in frühere, vermeintlich traditionalistischer Verhältnisse.
Der augenblickliche Fußballboom ist Ausdruck dieser Paarung aus alten Instinkten und neuer Vulgarität. Das zeigt sich auch in der allen Zuschauern der Fernsehübertragung bemerkbaren Verrohung der englischen Fußball-Verhältnisse: Pfeifen bei gegnerischen Nationalhymnen, das Blenden und Stören des gegnerischen Torwarts, der Eckbälle und Freistöße mit Laserpointern, sprechen alten britischen Vorstellungen von "sportsmanship" und "fair play" Hohn.
Wegen alldem kann man davon ausgehen: Für die Italiener halten werden heute Abend nicht nur viele Fußballfans in der ganzen Welt sein, sondern insbesondere auch Schotten, Waliser, Nordiren und in England lebende Nachfahren der ehemaligen Kolonien.
Desillusionierung als Chance
Italien zeigt hingegen gerade - im Fußball wie andernorts - dass in der Desillusionierung eine Chance liegen kann. Die Flüchtlingskrise, die fortdauernde Finanzkrise, sowie die zunehmende Lähmung der demokratischen Institutionen durch Populisten aller Lager wurden durch die Covid-19 Pandemie, die Italien als erstes europäisches Land und besonders hart und unvorbereitet traf, radikalisiert.
Das erforderte nicht nur radikale Gegenmaßnahmen, sondern zunächst der Wirklichkeit klar ins Auge zu sehen. Italien zeigte sich fähig zu einer solchen nüchternen Gegenwartsanalyse. Nie sind die Italiener besser, als wenn sie gut sein müssen.
Trainer Roberto Mancini hat ein klares System (das offensive, klassische, holländische 4-3-3). Aber er ist jederzeit bereit und fähig zu variieren. Die Vielzahl der EM-Torschützen zeigt die Breite und Variabilität im Kader. Gegner wissen nicht, auf wen sie sich konzentrieren sollen.
So wie Premierminister Mario Draghi das Land still, sachlich und elegant verändert, so tut es auch Mancini mit dem Calcio. Zwei gemäßigte Führungsfiguren, die der Welt eine andere Vorstellung von Italien schenken. Nach der Corona-Depression mit verlorenen Familienmitgliedern, Einkommensverlusten und Einschränkungen aller Art kann Italien das gut gebrauchen.
In Wembley treten heute Abend nicht nur zwei Mannschaften und nicht nur zwei Nationen gegeneinander an, sondern zwei Prinzipien und zwei Symbole.
Zugespitzt muss man formulieren: Die englische Mannschaft ist die Mannschaft des Neoliberalismus. Und die Mannschaft des letzten Aufbäumens des Vereinigten Königreichs vor dem Austritt Schottlands und Wales' vorhersehbaren Untergang Großbritanniens im politischen Maelstrom.
Die italienische Mannschaft ist die der Selbstbehauptung Europas - nicht nur aber auch, weil Italien eine der Gründungsnationen des Vereinten Europa gewesen ist, und die Gründungsakte der EWG nicht zufällig den Namen "Römische Verträge" trägt.