Europameisterschaft des Verbalradikalismus

Salvini und Orban. Bild: Árvai Károly/kormany.hu

Die laufende EU-Wahl ist zu einem politischen Sprachkampf mutiert. Anders als im Fußball zählen in diesem EU-Wettkampf viele Parteien zu den Pokalanwärtern der Kulturlosigkeit

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Wie lange siegt eine vernunftbegabte Mehrheit wohl noch gegen den wachsenden sprachlichen Bodensatz? Wie müssten die Rechten Europas in diesem EU-Wahlkampf sprechen, damit ihre Vorurteile und Alltagsrassismen zumindest dem Anschein nach so klingen, als wären sie innerhalb des moralischen Verfassungsbogens situiert?

Welche Rhetorik könnte Anwendung finden, damit die sozial-medial sprachverschmutzte und sich verbal vielfach bis zur Verkommenheit gehen lassende rechte Zielgruppe effektiv bespielt wird? Wie sollten in diesem europaweiten Wahlkampf rechte Kurztexte verbreitet werden, damit auch noch die einfachsten unter den latenten und manifesten Rassisten umgehend verstehen, was mit Patriotismus "eigentlich" gemeint ist?

Deckmantel des Rassismus

Hinter den verbalen Deckmänteln Patriotismus und Christentum stecken im politischen Diskurs vielfach längst lupenreine Xenophobie, wuchern antisemitische und islamfeindliche Reflexe. Sobald hinter diesen Alltagsrassismen, die zahlreichen Menschen bereits wie ein Persönlichkeitsmerkmal anhaften, ein politisches "Weil" steht, und dieses "Weil" unwidersprochen bleibt, beginnt sich die Dumpfheit des gegenwärtigen zivilisatorischen Rückschrittes offen zu manifestieren.

Sogar das Christentum haben viele der europäischen Rechten zur Funktion degradiert, es gilt für sie primär als Banner und gemeinschaftliches Bollwerk gegen inszenierte, diffus formulierte Pauschalbedrohungen. Christliche Glaubensinhalte kommen erst viel später an die Reihe, sie wurden gewissermaßen vom Hauptgang zum Dessert; im Zentrum steht nicht mehr die Nächstenliebe, sondern die gnadenlose Abschottung, euphemistisch oftmals Patriotismus genannt.

Keine Absolution für Rassisten

Zahllose rechte Pseudochristen führen religiöse Termini im Mund, nur um endlich ihre Ressentiments ausleben zu können. Dabei dürsten sie geradezu nach Absolution und werden vermutlich jene wählen, die ihnen diese zu geben versprechen. Doch "es gibt es kein richtiges Leben im falschen", wie T. W. Adorno wusste; sprachlich bei Rot über die Kreuzung zu fahren, bleibt ein moralischer Rotlichtverstoß.

Vielleicht liegt es primär daran, dass viele der sich als "neu" stilisierenden Rechten in Europa uneinsichtig, unbelehrbar und unverbesserlich sind: Uneinsichtig, was ihre permanenten "Einzelfälle" an rassistischen, xenophoben und antisemitischen bzw. antiislamischen Äußerungen betrifft. Unbelehrbar hinsichtlich dessen, was in der negativen Kulturgeschichte des europäischen Rassismus seit einem halben Jahrtausend geschah und weiter geschieht. Und unverbesserlich, was ihr moralisches "Kein-Problem-mit-Rechtsextremen-Haben" betrifft.

"Massen werden zu einem Körper"

Hinter den dystopischen Ergüssen vom angeblich drohenden "Bevölkerungsaustausch" stehen keine kulturwissenschaftlichen oder demografischen Studien, sondern sozial-medial vervielfältigte Restbestände aus dem Arsenal des Rassenbewusstseins. Sie zeugen nicht von Weitsicht oder gar Offenheit, sondern von Angst und Verunsicherung. Wie Sprachreste aus den alten Wörterbüchern der NS-Unmenschen, um den damaligen "Erhalt der Volksgemeinschaft" in neuer Politur zu präsentieren.

Verbale Relikte des Fanatismus überdauerten bis heute nicht nur in politischen Randgruppen. Vergiftete Sprache auf der Grundlage von verseuchtem Denken soll nach Ansicht einer wachsenden Anzahl von Menschen endlich aus der Hinterzimmer-Rhetorik befreit und ohne weiteres nach außen gebellt werden dürfen. Doch sich mitreißen zu lassen, seine Individualität in der Masse aufzugeben und zu einem Teil des Sprachchores zu werden, das sind nicht immer nur harmlose Praktiken des Begeisterungstaumels. "Massen werden zu einem Körper, zu einer Emotion und zu einem Geist", notierte Elias Canetti bereits zu Zeiten der Weimarer Republik.

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