Europameisterschaft des Verbalradikalismus
Seite 2: Die europäischen Rechtslenker nehmen Kurs
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Dass die rechten Parteien bei den kommenden Europawahlen fulminante Zugewinne in ihrer Zielgruppe der Unverbesserlichen, Unbelehrbaren und Uneinsichtigen verbuchen werden, bezweifelt kaum mehr jemand. Das Terrain ist seit Jahren aufbereitet, Millionen wurden europaweit bereits zu Politopfern des Populismus.
Doch die hinzukommende Gefahr, die sich auf leisen Sohlen in diesen EU-Wahlkampf eingeschlichen hat, sind die sogenannten gemäßigten Bürgerinnen und Bürger Europas. Aufgrund ihrer immer kleiner werdenden nationalen, regionalen und individuellen Handlungsspielräume könnten viele Gemäßigte zu einem Schlag ausholen. Gegen Europa, ganz individuell motiviert, eine europaweite Ohrfeige für Brüssel - um Letzteres vermeintlich zur Vernunft zu bringen.
Wenn dieser lokal motivierte Denkzettel auf europäischer Ebene deutlicher ausfällt, als erwartet, erfahren die Rechten und illiberalen Kräfte in Europa eine Stärkung, gegen die der neue Tonfall im Deutschen Bundestag wie kultiviertes Kaffeehausgeplauder klingt.
Abstimmungsverhalten der EU-Rechten: Fehlanzeige
Gut, dass sich die Kohäsionsrate (das langfristige gemeinsame inhaltliche Abstimmungsverhalten) der Rechten im Europaparlament zurzeit noch auf dem Niveau streitender Minderjähriger befindet. Dadurch kann - rebus sic stantibus - von keiner stabilen potenziellen Fraktion ausgegangen werden, denn die Partikularinteressen und wechselseitigen Animositäten sind kaum zu überwinden. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle Rechtslenker, von Finnland über Dänemark, Deutschland, Frankreich, Österreich, Ungarn bis Italien einigen können, lautet: weniger Migration und weniger Brüssel. Für eine stabile politische Ehe reicht das nicht, eher für einen kurzen Flirt mit nachfolgender Fraktions-Zwangsehe. Doch Beziehungen die auf vorgetäuschten Emotion basieren, pflegen nicht von langer Dauer zu sein.
Checks and Balances und das digitale Proletariat
Da ein substanzielles Gegensteuern der Humanisten (aus Diskretion?) und ein Aufstehen der Linken (aus Ermattung?) derzeit unterbleiben, geht der Hexensabbat munter weiter. Immer schneller dreht sich die Spirale der Illiberalität und des antidemokratischen Aushöhlens gesellschaftlich gewachsener Strukturen.
Die zukünftig gefährdeten Millionen der anlaufenden vierten Industriellen Revolution werden sich vom Prekariat der ersten fundamental unterscheiden, doch sie werden ebenso schutzbedürftig sein, wie ihre Sinus-Milieu-Vorläufer am tiefsten Punkt der gesamtgesellschaftlichen Talsohle.
Die verbliebenen Sozialdemokraten und Grünen Europas sollten umgehend damit beginnen, dem kommenden digitalen Proletariat Antworten zu geben, sichere Häfen und Schutzräume zu errichten, wenn sie ihre historische Rolle nicht verspielen wollen. Falls sie das nicht zustande bringen, wird das 20. Jahrhundert in der politischen Geschichte einst nur als Episode des sozialistischen Experiments erinnert werden, als Versuchsreihe linker Gesellschaftsmodelle.
Politische Eliten stehen heute wie vor einem riesigen Glaspalast und zeigen auf das vor ihnen befindliche Spiegelbild, in welchem sie und auch die Massen sich spiegeln. Doch sie scheinen zu vergessen, dass die Massen nicht im Spiegel sind, auf den sie zeigen, sondern weit, weit hinter ihnen. Erst wenn die politischen Eliten ihren Blick wenden, sich umdrehen und von der Ankündigung zur tatsächlichen Hinwendung gelangen, beginnt die Hoffnung auf das Schließen der europäischen Konfliktlinien zu wachsen.
Paul Sailer-Wlasits (geb. 1964) ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Zuletzt erschienen: "Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache" (2016) und "Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens" (2012). Sein neuer philosophischer Essay erscheint im Herbst 2019.
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