Europas Wind und Chinas Sturm
Beijings neuer Umgang mit westlichen Sanktionen lässt die geopolitischen Veränderungen erahnen
Am Montag hätte er keine Zeit, erklärte der chinesische Botschafter in Paris, Lu Shaye, nachdem ihn das Ministère de l'Europe et des Affaires étrangères just für diesen Tag einbestellt hatte. Und das, obwohl umgekehrt der EU-Botschafter in Beijing mitten in der Nacht ins Außenministerium zitiert worden war. Erst am Dienstag begab Lu sich dann an den Quai d’Orsay, um "bei der französischen Seite wegen der Sanktionen der EU" gegen China vorstellig zu werden. Diese im diplomatischen Verkehr ungewöhnliche Demonstration von Selbstbewusstsein signalisiert einen neuen Umgang Chinas mit der Sanktionspolitik des Westens.
Bekanntlich hatte die EU im März erstmals den im Dezember verabschiedeten Sanktionsmechanismus, das Pendant zum sogenannten Magnitsky-Act der USA, aktiviert und vier chinesische Partei- und Staatsfunktionäre aus der Region Xingiang mit Einreiseverbot und der Beschlagnahmung ihrer Vermögen in der EU – so es sie denn gibt – belegt.
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Aktion vorher mit den USA, Großbritannien und Kanada abgestimmt war, die gleichartige Sanktionen verhängten. Ein klares Signal, dass in dem sich anbahnenden Kalten Krieg Lagerbildung betrieben wird.
Asymmetrische Reaktion Beijings
Die chinesische Reaktion sorgte dann aber für Überraschung. Bisher verliefen solche Operationen symmetrisch, wie man es aus den Spannungen mit Russland kennt: Berlin weist vier russische Diplomaten aus, ein paar Tage später müssen vier deutsche Moskau verlassen. "Auge um Auge, Zahn um Zahn", so die alt-testamentarische Devise.
Beijings Gegenreaktion dagegen orientiert sich eher an Hosea 8, Vers 7: "Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten". Das heißt, die Revanche fiel gründlich asymmetrisch aus. Zehn Einzelpersonen – Familienangehörige eingeschlossen – wurde die Einreise nach Festlandchina und Hongkong verboten, ihre Vermögen in China, so vorhanden, eingefroren. Außerdem dürfen chinesische Unternehmen und staatliche Stellen keine Geschäfte mit ihnen machen. Größeres Gewicht aber hat die Verhängung von Sanktionen gegen vier Institutionen, nämlich:
- den politischen und Sicherheitsausschuss des EU-Rates, das für Außenpolitik und Militärisches zuständige Gremium der Vertreter der Mitgliedsländer, das zwischen Ministertagungen und Gipfeln die tägliche Arbeit erledigt;
- den Unterausschuss für Menschenrechte des EU-Parlaments;
- das Mercator Institute for China (Merics) mit Sitz in Berlin; ein privater Thinktank, der Politikberatung und Medienarbeit betreibt. Ins Leben gerufen wurde das Institut von der Mercator-Stiftung, die von der Milliardärsfamilie Schmidt/Schmidt Ruthenbeck gegründet worden war;
- die Alliance of Democracies, ein Netzwerk, das 2017 von dem vorherigen Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gegründet wurde. Das Projekt versteht sich als Nichtregierungsorganisation , die "Demokratie und freie Märkte weltweit fördert". Zu den Gästen an ihren Tagungen gehören u.a. der taiwanesische Präsident Tsai Ing-wen, Tony Blair, Donald Trumps letzter Außenminister Mike Pompeo und der spanische Ex-Premier José Maria Aznar von der post-franquistischen "Volkspartei". Unterstützer sind unter anderem so finanzstarke Champions der Demokratie wie BMW, Google und Facebook.
Unter den Einzelpersonen sind fünf Europaabgeordnete, darunter Michael Gahler (CDU), sicherheitspolitischer Sprecher der konservativen EVP-Fraktion, sowie der deutsche Grünenpolitiker Reinhard Bütikofer, der sich seit geraumer Zeit als Nato-Versteher profiliert. Außerdem drei Abgeordnete aus nationalen Parlamenten sowie zwei Personen, die von führenden Medien gern als China-Experten zitiert werden.
Hierzulande bekannt ist der Anthropologe Adrian Zenz, Urheber der Behauptung, eine Million Uiguren würde in Lagern festgehalten. Zwar meint er, anders als die Trump- und Biden-Regierungen, dass der Begriff Völkermord dafür nicht zuträfe, aber dennoch sei es richtig, ihn zu verwenden. Wer das für bizarre Logik hält, sei darauf verwiesen, dass Zenz seine Arbeit für eine religiöse Mission hält, denn "Gott habe ihn dazu geführt". Und Gottes Wege sind bekanntlich unergründlich.
Gegenüber USA, Kanada und Großbritannien hat Beijing vergleichbare Maßnahmen verhängt.
Völkerrecht versus Export von Menschenrechten
Die Botschaft, die Beijing mit seinem Gegenschlag sendet, ist mehr als deutlich: Wir akzeptieren nicht die Anmaßung, sich im internationalen System zugleich zu Klägern, Richtern und Vollstreckern aufzuschwingen. Und in der Tat zeichnet sich das internationale System ja dadurch aus, dass es – anders als im Inneren einer Gesellschaft – keine übergeordnete staatliche Ordnung mit oberster Gerichtsbarkeit und dazugehörigem Gewaltmonopol gibt. Allenfalls Ansätze dazu existieren im UN-Sicherheitsrat sowie bei für bestimmte Bereiche spezialisierten Organisationen, wie die Welthandelsorganisation, sowie im Völkerrecht.
Allerdings sind diese Ansätze in den letzten Jahren sehr geschwächt worden. Vorreiter war der Westen mit dem völkerrechtswidrigen Krieg in Jugoslawien 1999, dem Irak-Krieg 2003, dem Missbrauch des UN-Flugverbots zum Regime-Change 2010 in Libyen oder dem Drohnenkrieg der Obama-Regierung. All das war vor der Ukraine-Krise, mit der die Zeitrechnung des staatstragenden Narrativs die Spannungen im internationalen System beginnen lässt.
Zunehmend hat sich die Praxis eingeschlichen, unilateral auf der Grundlage des "Rechts des Stärkeren" vorzugehen – des militärisch Stärkeren und des ökonomisch Stärkeren. Wer Sanktionen verhängt, tut dies, weil er glaubt, es sich aus Stärke heraus leisten zu können.
Hat dagegen jemals ein afrikanisches Land gewagt, den strukturellen Rassismus in Gesellschaft, Polizei und Justiz der USA zu sanktionieren? Hat je ein Entwicklungsland auch nur gewagt, Brüssel mit Sanktionen zu drohen, wenn Konzerne aus der EU Menschenrechte mit Füßen treten?
Das ganze Sanktionswesen ist Ausdruck ungleicher und ungerechter Machtverhältnisse in der Welt, und ist mit dem Anspruch der UN-Charta unvereinbar. Schon im ersten Artikel heißt es dort, dass "internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen" sind. Und Artikel 2 formuliert den "Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker" zu achten, "auf dem die internationalen Beziehungen beruhen."
Menschenrechte, Moral und Machtpolitik
Deshalb ist es bestenfalls naiv, wenn selbst manche Linke ihren Regierungen das Recht zubilligen, als selbsternannte Richter und Vollstrecker den Export von Demokratie und Menschenrechten als "wertebasierte Außenpolitik" zu verkaufen. Denn moralisch agieren diese Regierungen nur zum Schein. Moral ist unteilbar und verkommt zur Doppelmoral, wenn man mit Saudi-Arabien, Ägypten, den Scheichtümern am Golf oder der Türkei milliardenschwere Rüstungsgeschäfte macht, bei anderen aber Menschenrechte im Dienste von Großmachtrivalität instrumentalisiert werden.
Aber wenn schon von Moral die Rede ist, dann gäbe es bei den Sanktionen gegen China einen ebenso pikanten wie hochmoralischen Aspekt ins Feld zu führen: Die UN-Charta zieht die Lehren aus zwei Weltkriegen und jahrhundertelangem Kolonialismus und imperialistischer Einmischung.
Mit kolonialer Unterwerfung und Imperialismus hat China einige Erfahrung mit dem Westen, darunter mit den Deutschen. Charakterisierte doch schon früher ein deutsches Staatsoberhaupt China: "als einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind", dem man Respekt vorm Völkerrecht beibringen müsse, auf "dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen".
So sagte es Wilhelm II. am 27. Juli 1900, als er sein Militär nach China schickte, wo es gemeinsam mit Truppen der USA, Frankreichs, Englands, Italiens, Japans, Österreich-Ungarns und des zaristischen Russlands Sanktionen gegen angebliche chinesische Rechtsbrüche vollstreckte und den "Boxeraufstand" niederschlug.
Und das war nur eine Erfahrung in einer hundertjährigen Kette von Demütigungen, die vom Ersten Opium-Krieg reicht, den London 1838 startete, bis 1945, als die blutrünstige Kolonialherrschaft Japans endete.
Alte Kamellen? In China ist diese Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis sehr präsent. Gerade die Deutschen, ansonsten so stolz auf ihre Erinnerungskultur, müssten das eigentlich begreifen. Schließlich ist der Holocaust sogar in die deutsche Staatsräson eingegangen, und daraus wird auch 80 Jahre danach eine besondere Haltung zu Israel abgeleitet.
Das findet u.a. seinen Niederschlag darin, dass Sanktionen wegen der israelischen Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen vehement abgeblockt werden. Ohne die Singularität der Shoah infrage zu stellen, wäre es jedoch an der Zeit auch die Kolonialverbrechen zu thematisieren und sich einmal in die Opfer hineinzuversetzen.
Das bedeutet nicht, dass nicht auch die Verhältnisse in China, wie bei jedem anderen Land, kritisch unter die Lupe genommen werden könnten. Zivilgesellschaft, Publizistik, Wissenschaft und Politik haben selbstverständlich das Recht dazu. Aber daraus ergibt sich kein Recht auf Bestrafung anderer Staaten.
In der Zwickmühle
Anders als zu Zeiten des Kalten Kriegs 1.0. ist die Welt heute ungleich stärker vernetzt und von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt. Das wird vor allem die deutsche Wirtschaft spüren, wenn Berlin den chinesischen Schuss vor den Bug ignorieren sollte. "China braucht uns nicht, wir brauchen aber China." Auf diese Formel brachte der Ex-Chef von Siemens, Joe Kaeser, die Sachlage. Auch für die EU, die erst im Dezember ein Investitionsabkommen mit B auf den Weg gebracht hat, steht einiges auf dem Spiel.
Vielleicht wird das Signal aus Beijing verstanden, und es setzt sich die Einsicht durch, dass friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit vorteilhafter sind als Rivalität und Kalter Krieg. Auch die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, vorne weg die Klimakrise, sind nur so zu meistern. Nicht zuletzt würde es auch ein günstigeres Umfeld für die Entfaltung der Menschenrechte schaffen.
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