Europas neues Selbstbewusstsein
Straßburgs parlamentarischer Tiger bleckt die Zähne, beißt Durão Barroso aber noch nicht
Erstaunt blickt die europäische Öffentlichkeit dieser Tage nach Straßburg. Das Europäische Parlament, immer noch in seinen Rechten gegenüber Vollparlamenten wie dem Bundestag beschnitten, zeigt sich unerwartet kampfeslustig. Durão Barroso ist immer noch designierter und nicht Kommissionspräsident, seine Kommissare stehen nicht mehr unter Artenschutz und die Regierungschefs müssen sich nun erneut Gedanken machen. Nur das Parlament ist vorläufig fein raus: Ohne Durão Barroso vollständig abzuservieren, hat es die eigenen Wünsche deutlich gemacht. Ein neuer Höhepunkt Straßburger Selbstvertrauens, das sich beim Sturz der Santer-Kommission 1999 schon einmal zeigte?
Vermutlich hat sich Barroso die allerletzte Chance auf eine hauchdünne Mehrheit am Dienstag verbaut. Er stellte die zunehmend selbstbewussten Parlamentarier der sozialdemokratischen und liberalen Fraktionen, die sich noch nicht abschließend auf ein Votum festgelegt hatten, in eine Ecke mit Rechtsextremen: Ob es normal sei, wenn die besonders für Europa engagierten Kräfte gemeinsam mit den extremen Gegnern einer europäischen Einigung Position beziehen, fragte er im Parlament.
Man lässt sich nicht gerne beleidigen in Straßburg. Johannes Swoboda, Vize-Fraktionschef der Sozialdemokraten, konterte: "Buttiglione ist zum Symbol der Sturheit von Regierungen geworden, die nicht bereit waren, mit uns zusammenzuarbeiten." Eine deutliche Warnung an Durão Barroso, dass er weiterhin vom Parlament abhängig bleibt.
Ende eines künstlichen Zustandes
Der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld vom Münchner Centrum für angewandte Politikforschung äußerte sich im Gespräch mit Telepolis positiv überrascht:
Das Parlament ist endlich erwacht. Die Parlamentarier haben nichts anderes getan, als den konstitutionellen Rahmen auszunutzen, der ihnen schon seit langem gegeben ist.
Das sei Teil einer generellen Politisierung der europäischen Politik, so Weidenfeld. Der "künstliche Laborzustand" in dem sich Europa bisher befunden habe, werde nun zugunsten "ganz normaler" Konflikte, wie sie auf anderen politischen Ebenen Alltag sind, verlassen.
Die Stimmung am Sitz des EU-Parlaments sei am Donnerstag "völlig normal" gewesen, sagte Silvana Koch-Mehrin, Vizevorsitzende der Liberalen Fraktion im Europaparlament. Beratungen und Plenarsitzungen hätten wie gewohnt stattgefunden. Einen Tag zuvor war man euphorisch in Straßburg und Brüssel, den beiden Hauptsitzen des Europäischen Parlaments: Von einem "historischen Sieg für den europäischen Parlamentarismus und die europäische Demokratie" sprach Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen:
Zum ersten Mal hat das Europäische Parlament erfolgreich Widerstand gegen die Nominierung einer Kommission mit eklatanten Fehlbesetzungen geleistet.
Die Liberalen stießen sich vor allem an Rocco Buttiglione, dem erzkonservativen italienischen Kandidaten, den Regierungschef Berlusconi gerne als Kommissar für Inneres, Justiz und bürgerliche Freiheiten nach Brüssel geschickt hätte. Seine Äußerungen zur Homosexualität, die er als Sünde bezeichnete, und zur Familienpolitik stießen den freiheitlichen Abgeordneten sauer auf. "So jemand konnten wir nicht tolerieren", erklärte Silvana Koch-Mehrin gegenüber Telepolis. In fraktionsinternen Probeabstimmungen wurde deutlich, dass Durão Barrosos Kommission keine Chance hatte. Zwei Drittel der Liberalen und die ganze sozialdemokratische Fraktion lehnten sie ab.
Buttigliones Karriere als Kommissar endgültig gescheitert
Weitere Forderungen als einen Ersatz für den umstrittenen Italiener Buttiglione (Die Kommissare, das Parlament und die Moral) will die Liberale aber nicht erheben: "Das Parlament sollte sich jetzt nicht zu viele Nachforderungen stellen", sagte sie. Grünen-Chef Cohn-Bendit sieht das anders: "Nur mit dem Austausch Buttigliones wird es nicht getan sein. Die Grünen fordern, dass Durão Barroso Lösungen für alle nach den Parlamentsanhörungen als problematisch eingestuften Kommissare findet. Wir warten auf Durão Barrosos neuen Vorschlag. Er ist am Zug."
Die Ernennung der Kommissare geschieht wie die Benennung des Kommissionspräsidenten (Ein Kandidat und viel Geschacher) durch die Mitgliedsregierungen. Silvio Berlusconi ist nun gezwungen, einen Ersatz für Buttiglione zu finden, der sowohl dem eigenen rechtskonservativen Spektrum der Regierungskoalition in Rom entspricht, als auch in Straßburg akzeptiert wird. Ein anderer Italiener bleibt solange in Brüssel, bis Durão Barroso und Berlusconi fündig geworden sind: Romano Prodi führt mit seiner Mannschaft kommissarisch die Amtsgeschäfte weiter. Und ein weiterer bleibt eventuell: der bisherige Wettbewerbskommissar Mario Monti ist eine der möglichen Optionen für Berlusconi.
Die junge FDP-Abgeordnete Koch-Mehrin macht zwei Ursachen für das neue, selbstbewusste Parlament aus: "Es sind jetzt Abgeordnete aus den zehn neuen Ländern dabei. Das sind Leute, die sich die Demokratie erkämpft haben." - und sich jetzt nicht mit der Rolle der Ja-Sager im neuen, vereinten Europa zufrieden geben wollen. Außerdem, so Koch-Mehrin, sei jetzt der Einfluss insbesondere jüngerer Abgeordneter gewachsen, die nicht glauben, "dass ein Parlament immer einer Meinung sein muss".
Es finde eine "Veränderung in der politischen Kultur dieser Vorgänge" statt, analysiert der Politikwissenschaftler Weidenfeld das Geschehen. Das könne das Parlament und die Demokratisierung der Europäischen Union nachhaltig stärken. "Allerdings nur, wenn die Parlamentarier nicht wieder in ihre Formkrise zurückfallen." Bequem sei die neue Exponiertheit nämlich nicht. In der Vergangenheit habe das Parlament bei Meinungsverschiedenheiten oft allzu schnell wieder beigedreht.