Europawahl 2019 doch ohne Sperrklausel?
Die Leitlinien der Venedig-Kommission des Europarats sehen vor, dass eine Wahlrechtsänderung mindestens zwölf Monate vor der nächsten Wahl geschieht
Die "Europäische Kommission für Demokratie durch Recht", besser bekannt als "Venedig-Kommission", wurde vom Europarat eingerichtet, um Maßstäbe dafür aufzustellen, was als demokratisch gilt und was nicht. Europäische Regierungen verweisen deshalb häufig auf die Leitlinien dieser Kommission, wenn sie die Politik anderer Regierungen als undemokratisch kritisieren.
Eine dieser Leitlinien besagt, dass Wahlgesetze mindestens ein Jahr vor der nächsten Wahl geändert werden. Da die Europawahl vom 23. bis 26. Mai 2019 stattfindet, müssten die Wahlgesetze dafür dieser Leitlinie nach diejenigen sein, die jetzt gelten. Das Vorhaben der deutschen Bundesregierung, eine neue Sperrklausel in Höhe von zwei bis fünf Prozent einzuführen (vgl. Belgien und Italien wollen sich angeblich deutschem Druck beugen), wäre dann gescheitert.
Aiwanger und Sonneborn unterschiedlicher Meinung
So sehen das zumindest das ZDF und die aktuell mit zwei Abgeordneten im Europaparlament vertretenen Freien Wähler, deren Vorsitzender Hubert Aiwanger gestern twitterte "CDU/CSU/SPD" produzierten "schon jetzt Unsinn genug und brauchen sich nicht noch ein paar Parlamentssitze mehr unter den Nagel reißen".
Anders sieht das Martin Sonneborn, der womöglich bekannteste deutsche Europaabgeordnete, der seinem Einzug der Tatsache verdankt, dass das Bundesverfassungsgericht die deutschen Sperrklauseln bei Europawahlen zwei Mal für verfassungswidrig erklärte. Die Bundesregierung, so Sonneborn gestern zu Telepolis, werde seiner Einschätzung nach "national trotzdem eine Hürde einziehen, [denn] die Empfehlungen der Venedig-Kommission haben für die GrKo keine Bedeutung."
Das glaubt auch Florian Weber, der Vorsitzende der Bayernpartei, die auf europäischer Ebene dem EFA-Bündnis der Separatisten, Autonomisten und Regionalisten angehört (vgl. Was eint die Vielfalt?). Er meint, die Bundesregierung müsste sich zwar an die Leitlinien der Venedig-Kommission halten, werde sich aber nicht darum scheren, wenn es um die Interessen der drei Regierungsparteien geht.
Niederländer Timmermanns soll Spitzenkandidat der Sozialdemokraten werden
Wie bei der letzten Europawahl 2014, als die Christdemokraten mit Jean-Claude Juncker und die Sozialdemokraten mit Martin Schulz antraten, soll es auch 2019 wieder "Spitzenkandidaten" der Fraktionen geben. Bei den Sozialdemokraten könnte das der niederländische EU-Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans sein, den SPÖ-Chef Christian Kern im Standard als "exzellente Wahl" lobte. Eine insofern bemerkenswerte Einschätzung, als Timmermanns Sozialdemokraten bei der letzten Parlamentswahl in den Niederlanden vom Wähler mit einem Verlust von 19,14 auf jetzt nur mehr 5,7 Prozent abgestraft wurden.
In anderen Ländern wie beispielsweise Tschechien, Polen, Ungarn, Griechenland oder Slowenien gingen sozialdemokratische Parteien allerdings einen ähnlichen Weg. Und Großbritannien, wo sich diese Entwicklung unter Jeremy Corbyn umkehrte, wird an der Europawahl 2019 nicht mehr teilnehmen. Dass die Sozialdemokraten im Europaparlament stärkste Fraktion werden, ist alleine deshalb schon eher unwahrscheinlich. Bessere Chancen haben die CDU/CSU-geführten Christdemokraten von der EVP (für die Jean-Claude Juncker nicht erneut kandidierten will), weil die wegfallenden britischen Tories ihnen schon jetzt nicht angehören, sondern mit der EKR eine eigene Fraktion der "Konservativen und Reformer" (EKR) aufmachten.
Fraktionen könnten durcheinandergewirbelt werden
Ob diese EKR-Fraktion (die 2014 bewusst auf einen länderübergreifenden Spitzenkandidaten verzichtete) 2019 mit einem Europagesicht in die Wahl zieht, ist noch offen. Gleiches gilt für die EFA, wo sich einer der Katalanen, die im letzten Jahr europaweit bekannt wurden, als potenzieller Spitzenkandidat anbieten würde, nachdem sich die ebenfalls europaweit bekannten Schotten von der SNP wegen des Brexits nicht mehr beteiligen dürfen. Sehr wahrscheinlich wieder Spitzenkandidaten stellen die Liberalen (die 2014 den Belgier Guy Verhofstadt plakatierten), die Linken (die damals den Griechen Alexis Tsipras aufstellten) und die Grünen (die mit der deutsch-französischen und weiblich-männlichen Doppelspitze Franziska Keller und José Bovén ins Rennen gingen) auf.
Die unter anderem vom französischen Front National, der italienischen Lega und der österreichischen FPÖ gebildete Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF) dürfte mit oder ohne gemeinsamen Spitzenkandidaten kräftig zulegen, wenn man sich die nationalen Wahlergebnisse der Parteien in den letzten Jahren ansieht. Offen ist dagegen, was aus der Fraktion "Europa der Freiheit und der direkten Demokratie" (EFDD) wird, nachdem die dort bislang zusammen mit der italienischen M5S dominierende britische UKIP wegfällt. Allerdings ist gut möglich, dass die Fraktionen ohnehin durcheinandergewirbelt werden: Die ungarische Regierungspartei Fidesz könnte beispielsweise von der EVP in die EKR wechseln und dort zusammen mit der polnischen Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) die dominierende Position einnehmen, wenn sich die Fraktion nicht auflöst.