Ewige volkstümliche Wahrheiten

Ein Sittengemälde vom innen- und kommunalpolitischen Forum der CDU in Brandenburg

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Wenn die Kader der CDU in Brandenburg Heerschau halten, dann erwartet man vier Wochen vor der Landtagswahl starke Sprüche und kernige Parolen. Man kann ein derartiges Event weiträumig umfahren. Wer jedoch wissen will, wie Politik in deutscher Provinz öffentlich zelebriert wird, der war beim innen- und kommunalpolitische Forum der Landtagsfraktion in Potsdam genau richtig.

Ein Parteifunktionär hat ungefähr die Rolle eines Indianerhäuptlings in Südamerika zu Zeiten des Kolumbus zu spielen: Er muss das verkünden, was seine Gesinnungsgenossen ohnehin schon denken. Und er darf das nicht sagen, was zwar alle wissen, aber das Publikum irritieren würde – zum Beispiel die Wahrheit über den abzusehenden Misserfolg im Kampf gegen den Nachbarstamm. Im Gegenzug verzeiht man ihm alle Verfehlungen, weil man insgeheim weiß, dass man genau so gehandelt hätte, hätte man an seiner Stelle gesessen.

So funktioniert das System Berlusconi, so funktioniert die CDU in der Provinz wie in der Brandenburger Kiefernwälder-Pampa. Ein Sozialanthropologe hätte die Gruppendynamik zwischen dem Publikum, vor allem CDU-Bürgermeister und andere Kommunalpolitiker, und den VIPs auf dem Podium interessiert beobachtet, aber die Angelegenheit unter der Überschrift "kollektive Amnesie im gegenseitigen Einverständnis" abgeheftet.

Die CDU in Brandenburg gilt als als einer der "erfolglosesten Landesverbände" der CDU. Der einheimische Platzhirsch ist Sven Petke, innenpolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion. Kleiner "Platzhund" wäre ein treffenderer Ausdruck, denn Petke hat in der jüngsten Vergangenheit seine Nebenbuhler im Kampf um die Provinzmacht weggebissen. "Wo Sven Petke ist, ist oben!" schrieb die Zeit, schwankend zwischen Bewunderung und Abscheu.

Petkes aktuelles politisches Motto: "Starker Staat für freie Bürger". Das ist Wahlplakat- und Horst-Schlämmer-kompatibel, weil auch der Versionen "Freier Staat für starke Bürger" oder "Weniger Staat für mehr Bürger" nicht unangenehm auffallen würden. Applaus wäre garantiert, würde die Parolen nur ernsthaft und im Brustton der Überzeugung vorgetragen. Einen schwachen Staat für unfreie Bürger will niemand. Also darf man zustimmend nicken. Wer wie Petke den Vorwurf politisch überlebt, die E-Mails seiner Parteigenossen ausgespäht zu haben, und wer das juristische Nachspiel gelassen aussitzt, bis von den Vorwürfen noch nicht einmal ein Windhauch mehr übrig bleibt, der ist - obzwar Provinzpolitiker - kein Anfänger, sondern qualifiziert sich, in die Fußstapfen von Großpolitikern wie Franz Josef Strauß, Otto Graf Lambsdorf oder Walther Leisler Kiep treten zu können, die mindestens Vergleichbares geleistet haben.

Man kann davon ausgehen, dass von den 130 Besuchern der CDU-Veranstaltung jeder die "Kaderakten" und Vorlieben der VIPs kannte. Von Zeit zu Zeit sieht man die Alten gern, denkt das Publikum gewöhnlich:

  • Prof. Dr. Johanna Wanka, Spitzenkandidatin und Landesvorsitzende, Mitbegründerin des Neuen Forums. Ihre Spezialität: "Lösung von Kontakt- und Steuerproblemen mit potential-theoretischen Mitteln." Die Überschrift ihrer Dissertation ist zwar technisch gemeint, lässt sich aber mühelos auf ihr aktuelles politisches Amt - Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur" übertragen. Wanka gehört laut Welt dem Klüngel um Petke an.
  • Dr. Saskia Funck, Vorsitzende der CDU-Fraktion im Landtag Brandenburg: "Gerade im ländlichen Raum ist eine gut ausgebaute 'Datenautobahn' von zentraler Bedeutung."
  • Dietlind Tiemann, Oberbürgermeisterin der Stadt Brandenburg/Havel, Ex-Mitglied der SED, die nur "widerwillig" in die CDU eintrat.
  • Jörg Schönbohm, Ex-General, der das deutsche Volk gern als "Gemeinschaft" sieht, aber wegen seiner Biografie und wegen seines Bekanntheitsgrades sakrosankt ist und sich zu Provinzkadern wie Petke verhält wie Reichspräsident Friedrich Ebert zum Polizeipräsidenten Karl Friedrich Zörgiebel.

Niemand (außer dem Autor) recherchierte während den Reden im Internet den Vortragenden hinterher. Das war nicht nötig. Es hätte auch nichts an der Stimmung im Saal geändert, wenn etwa der Wikipedia-Eintrag Lorenz Caffier, den Minister des Innern des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eingeblendet worden wäre. Caffier bezeichnet sich selbst völlig korrekt "als Blockflöte". Die FAZ tituliert ihn als "Maschinist der Staatsgewalt". Das klingt furchtbar und ist auch so gemeint.

Neun Worte nacheinander in einem Satz sind die Obergrenze der Verständlichkeit

Man sollte sich über politische Sprechblasen, wie sie etwa Petke oder der ebenfalls anwesende Wolfgang Bosbach (der mit der Online-Durchsuchung) von sich gaben und geben, nicht lustig machen. Das verfehlte das Thema. Die platten Parolen der Parteien nehmen die Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie und der Boulevard-Presse ernst: Der normale Rezipient kann nur neun Worte behalten, das ist die Obergrenze der Verständlichkeit.

Bosbach sagte: "Der Staat muss das Recht auch durchsetzen." (Sieben Worte) "Wir wollen keinen Polizei- und Überwachungsstaat." (Sechs Worte) Zur polizeilichen Kriminalstatistik: "Seit der Jahrtausendwende verharren wir auf hohem Niveau." (Acht Worte) "Der 70-Jährige neigt weniger zur Randale als der 20-Jährige." Sätze, die sich in Humor versuchen, behält man eher als etwa das zwar prägnante, aber stilistisch scheußliche Statement Caffiers: "Ich habe das Finanzausgleichsgesetz gemacht." Vom öffentlichen Wolfgang Bosbach live behält der unbedarfte Zuhörer, dass er nett rüberkommt, dass er gegen das Böse ist, wo auch immer es sich offenbart, und dass er kein Weichei sein möchte. Was will man mehr?

Ein Mitglied der Piratenpartei hätte vielleicht gefragt, wie Bosbach die IP-Adresse eines Verdächtigen in einem Internet-Cafe finden will, wie oft Ermittler in die Wohnung eines Straftäters heimlich einbrechen müssten, um einen Keylogger zu installieren oder ob der aktuelle Linux-Kernel oder ein moderner Router einer Online-Durchsuchung Widerstand leisten würde. Diese Fragen sind jedoch für den Wahlkampf eines Kommunalpolitikers in Brandenburg so relevant wie das bulgarische Hörfunk-Programm für einen Schamanen aus Papua-Neuguinea.

Nicht die Fakten, sondern die Gefühle entscheiden Wahlen. Die brandenburgische CDU-Politikern Wanka hat das erkannt: Schönböhm werde von der Bevölkerung als jemand wahrgenommen, der sich "maximal um die Sicherheit" kümmere. Diese Gefühl könnte die politische Konkurrenz in Brandenburg nur toppen, wenn es ihr gelänge, Vitali ("Dr. Eisenfaust") oder Wladimir Klitschko zur Kandidatur für die Sozialdemokratie oder die Linke zu überreden.

Innenpolitik in der Provinz ist so schlicht wie ein Horoskop

Es geht um ewige volkstümliche Wahrheiten. Wehret den Anfängen. Mut zur Erziehung. Im Verein ist Sport am Schönsten. Wenn man abends müde ins Bett fällt, kommt man nicht auf dumme Gedanken. Vereinsarbeit schützt vor Kriminalität. (Zitate Bosbach). Das Internet kam auch vor - als Tatort. Schlagworte: Terrorismus, Phishing, Kinderpornografie. Keine Diskussion in Deutschland über das Internet, die ohne das Reizwort Kinderpornografie auskommt: "Wenn sie diese Bilder einmal gesehen haben, die lassen sie nicht mehr los" (Bosbach). Danach ist keine Diskussion mehr möglich. Aber das will auch niemand. Die meisten Provinzpolitiker nehmen das Internet wie eine Verkehrsampel: Das Ding ist irgendwie da, weil es irgendwie jemand erfunden hat und man als Querulant und als Feind des technischen Fortschritt dastünde, wäre man dagegen. Aber insgeheim träumt man doch von einer Welt ohne Ampeln.

Die CDU in Brandenburg und ihr Verhältnis zum Internet lässt sich am besten mit deren eigenen Worten umschreiben: "In einer Welt, die unübersichtlicher wird, wächst das Bedürfnis nach Identität und Heimat." (Zitat aus der Einladung) Hätten Bosbach oder Schönbohm gesagt: "In einer Welt, die dank des Internet immer übersichtlicher wird, wächst das Bedürfnis nach Identität und Heimat", es hätten auch alle begeistert applaudiert. In diesem Sinne war das Event eine gelungene Veranstaltung: Die Sonne schien, es gab etwas zu trinken, die Reden dauerten nicht zu lange, die Parolen waren bekannt, und niemand stieß dem politischen Widersacher heimlich ein Messer in den Rücken.

Nach der Landtagswahl am 27. September könnte sich das jedoch ändern. Das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger wird zunehmend unübersichtlicher. Und das Bedürfnis, wie beim "innen- und kommunalpolitische Forum" der CDU, nur auf Gleichgesinnte zu stoßen, dürfte nicht immer ausreichen, um im 21. Jahrhundert die Macht zu erobern.