Exklusive Wissenschaft, die neue Mauern errichtet
Zum zwanzigsten Jahrestages des Mauerfalls referierten bei der Falling Walls Conference Wissenschaftler aus aller Welt über die Mauern, die der wissenschaftliche Fortschritt in Bälde durchbrechen wird - in exklusivem Kreis und in eigenen Grenzen
Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 9.11.2009 lud die Einstein Stiftung zur Falling Walls Conference in Berlin und strapazierte dabei die Mauerfallsmetaphorik bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit: Teilnehmer der Konferenz konnten sich von handverlesenen Wissenschaftlern über die future breakthroughs in science and society, die kommenden Durchbrüche in Wissenschaft und Gesellschaft, aufklären lassen. Bundeskanzlerin Merkel, so eine Pressemitteilung, "ruft Forscher zum Einreißen neuer Mauern auf".
Über 40 Wissenschaftler, ausgewiesene Experten ihres Wissenschaftsgebietes und ganz sicher mit der von Pierre Bourdieu so genannten libido sciendi, der für gute Wissenschaftler unerlässlichen Lust an der Forschung und Liebe zum Fach gesegnet, nutzen bereitwillig die Gelegenheit, Wissenschafts-PR zu machen: Sie hielten Hof vor einem ebenfalls ausgewählten Publikum, das kaum in der Lage sein konnte, jedem Referenten im Detail zu folgen – worauf es wohl auch nicht ankam. Man konnte sich bei der Veranstaltung als Gast einer der öffentlichen Vorlesungen wähnen, wie sie Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts von Wissenschaftlern für die bildungsbürgerliche Elite gehalten wurden.
Beiträge über die erwarteten future breakthroughs in society suchte man vergebens. Dominierend waren Beiträge aus Medizin, Neurowissenschaften, Naturwissenschaften oder Technik, Referenten aus anderen Disziplinen beschränkten sich meist auf leicht konsumierbare Wissenschaftsunterhaltung. Kontextualisierung oder Reflektion über Antezedenzien von Wissenschaft, deren Konflikthaftigkeit und Interessensgebundenheit wurden nicht ansatzweise thematisiert. Dabei konstatierte Jürgen Habermas bereits 1968 in „Technik und Wissenschaft als Ideologie“, dass Technik und Wissenschaft neue Ideologien darstellen könnten.
Bei diesen neuen Ideologien tritt anstelle des in den alten Ideologien gebräuchlichen Erkenntnisdelikts das Verwertungsdelikt: Solche Ideologien beruhen nicht länger auf der Täuschung der Menschen, schließlich produziert Wissenschaft im Idealfall korrektes und überprüfbares Wissen und Technik ist mehr oder minder wertfrei - die Ideologie der Wissenschaft und Technik beruht vielmehr auf der entfesselten und unreflektierten Verwendung und Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse. Eine derart relativierende oder mäßigende Betrachtung etwa in Form der Technikfolgenabschätzung hätte durchaus ihren Platz bei der Falling Walls Conference verdient gehabt, z.B. zur Diskussion des Referats mit dem Titel „Breaking the Wall of Fusion“ zum International Thermonuclear Experimental Reactor ITER ("Eigentümliche Dosis an Optimismus").
Neben den Mauern, die der von den Referenten prognostizierte wissenschaftliche Fortschritt zum Einsturz bringen soll, hätten auch die Mauern, die die Wissenschaft umgeben, eine Diskussion verdient: Der Zugang zu Bildung und Wissenschaft ist nach wie vor zwischen Geschlechtern und Schichten ungleich verteilt, damit auch der Zugang zu Privilegien und Lebenschancen. Die Bestätigung findet sich im Programm der Falling Walls Conference höchst selbst: Von den insgesamt 41 (als Referenten, Session-Moderatoren oder Dinner Speech Redner ) Vortragenden waren gerade mal sechs weiblichen Geschlechts - darunter auch Bundeskanzlerin Merkel, die eine recht rückwartsgewandte Key Note ohne belastbare Statements zur Wissenschafts- oder Bildungspolitik, dafür mit um so mehr Mauerfallnostalgie und gobalisierter Gemeinschaftsgesinnung hielt. Damit schaffte Frau Merkel fasst doch noch den Brückenschlag zur Konferenz: Einige Referate hatten inhaltlich globale Reichweite, blieben dabei aber meist in einer Art wissenschaftlichem Ethnozentrismus gefangen, wirtschaftlich benachteiligte Länder wurden zumeist als Objekte medizinischer oder politischer Intervention, nicht als Akteure konzeptionalisiert.
Kritik war aus dem Auditorium nicht zu erwarten, allein schon wegen finanzieller Grenzen. Wer kein Ehrengast oder Young Scholar war musste tief in die Tasche greifen. Vertreter öffentlicher Institutionen zahlten 1.000 €, Firmenvertreter 2.500 €, sonstige Teilnehmer waren gegen eine 5.000 € Spende mit von der Partie, Nachwuchsforscher zahlten 150 Euro und verfolgten die Vorträge getrennt vom restlichen Auditorium über eine Videoübertragung im fünften Stock des Veranstaltungsortes. Folglich fanden sich unter den Teilnehmern neben Wissenschaftlern vor allem Vertreter von Banken und anderer Finanzunternehmen, Unternehmensberater, Forschungsförderer, Wissenschaftsbürokraten, Wissenschaftsjournalisten, Bildungsblätterfeuilletonisten und Politiker: Eine Wissenschaftsclique und geschlossene elitäre Gesellschaft, die gewiss nicht das Interesse am Fall der Mauern, die die Wissenschaft umgeben, oder eine Diskussion der Grenzen einer unreflektierten technischen und finanziellen Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse eint.
So blieb es die Falling Walls Conference am zwanzigsten Jahrestages des Mauerfalls schuldig, Wissenschaft öffentlich zu machen und einen offenen und transparenten Diskurs über Wissenschaft zu führen.