Experte: Bundesregierung täuscht Öffentlichkeit über 1,5-Grad-Klimapolitik
Experten warnen vor naher Überschreitung der 1,5-Grad-Schwelle. Bundesregierung gibt vor, Pariser Klimaziele zu erreichen. Telepolis-Gastautor Hans-Josef Fell spricht von Täuschung
Das global betrachtet bislang heißeste Jahr war 2016 – damals lag die weltweite Durchschnittstemperatur bei 1,2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Besonders alarmierend: Die WMO-Expert:innen (Weltorganisation für Meteorologie) gehen nun davon aus, dass dieser Rekord bis 2026, also schon in den nächsten fünf Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 93 Prozent übertroffen wird.
Darüber hinaus gibt die WMO in ihrem Klimazustandsbericht an, dass bereits im vergangenen Jahr vier zentrale Indikatoren für den Klimawandel Höchstwerte erreicht haben: der Anstieg des Meeresspiegels, der Wärmeinhalt der Ozeane, die Versauerung der Meere und die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre – bei letzterem handelt es sich allen voran um Kohlenstoffdioxid (CO2).
Dass das deutliche Überschreiten der globalen Temperatur von 1,5 Grad Celsius schnell in eine unbeherrschbare Heißzeit führen wird, in der die heutige menschliche Zivilisation nicht mehr existenzfähig ist, wird inzwischen von immer mehr Wissenschaftler*innen anerkannt.
Schlimm ist aber, dass diese Erkenntnis immer noch keine ausreichenden gesellschaftlichen und politischen Handlungen erzeugt, die dem noch entgegenwirken könnten.
Klar ist, dass ein Einhalten eines 1,5-Grad-Pfades mit neuen Emissionen nach dem Überschreiten von 1,5 Grad im Jahre 2026 nicht möglich ist. Neue Emissionen führen, wegen der Erhöhung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre nur zu einem beschleunigten Temperaturanstieg weit über 1,5 Grad hinaus, aber nicht zum Einhalten des 1,5-Grad-Pfades, wie er völkerrechtlich verpflichtend in Paris 2015 auch von Deutschland unterzeichnet wurde.
Stattdessen ist die Rede vom schwachen Ziel der Klimaneutralität bis 2050 von verschiedensten Ländern, aber auch der Europäischen Kommission im Rahmen des European Green Deal. Die deutsche Bundesregierung hat ihr Ziel mit der Änderung des Klimaschutzgesetzes marginal angepasst, indem Deutschland bis 2045 klimaneutral werden will. Aber spätestens jetzt muss doch klar sein: Alles führt nur zu einer Erdaufheizung weit über 1,5 Grad hinaus. Denn die 1,5-Grad-Schwelle wird deutlich früher als noch vor wenigen Jahren erwartet erreicht und diese schwachen Ziele der Klimaneutralität reichen keineswegs aus, um das Auslöschen der menschlichen Zivilisation zu verhindern.
Eine Studie der Energie Watch Group (EWG) hat bereits im Dezember 2020 davor gewarnt, dass mit dem Pfad einer Klimaneutralität ab 2050 die Pariser Klimaziele unmöglich erreicht werden können und damit auch kein Beitrag zum Klimaschutz geleistet wird. Die EWG-Studie kommt zu dem Schluss, dass – um überhaupt noch eine Chance zu haben, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten – braucht es spätestens ab 2030 weltweit eine menschliche Lebensweise, die keine Treibhausgasemissionen mehr verursacht und gleichzeitig große Mengen an CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernt. Mit der neuen dramatischen Analyse der WMO muss dies nun ab 2026 gelten.
Eine wirkliche Klimaschutzpolitik wäre demzufolge eine weltweite Nullemissionswirtschaft, in deren Zentrum 100 Prozent Erneuerbare Energien stehen, in Verbindung mit großen Kohlenstoffsenken. Nur wenn der atmosphärische Treibhausgasgehalt reduziert wird, kann das ungebremste Fortschreiten des Klimawandels verhindert werden.
In völliger Ignoranz dieser neuen Erkenntnisse der WMO wird die Öffentlichkeit aber weiter in dem Glauben gehalten, man wäre auf dem richtigen Weg und die Regierungen täten alles, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Erst kürzlich behauptete Patrick Graichen, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), dass mit dem EEG-Osterpaket des BMWK der Pfad zu 1,5 Grad eingehalten werde. Diese Behauptung kommt schlichtweg einem Täuschen der Öffentlichkeit gleich. Denn wie soll denn 1,5 Grad gehalten werden, wenn diese Temperatur schon 2026 überschritten sein wird, danach aber immer munter weiter bis 2045 emittiert werden wird?
Im Gegensatz dazu haben die Aktivist:innen von Fridays For Future die Dringlichkeit des Handelns schon lange erkannt. Sie planen aktuell eine dauerhafte Mahnwache in Würzburg – um eben auch ein dauerhaftes Zeichen zu setzen.
Dieses Zeichen ist lobenswert, denn uns bleibt einfach schlichtweg keine Zeit mehr. Das 1,5-Grad-Ziel wird noch weit vor 2030 erreicht und wir müssen endlich handeln. Die Bundesregierung ist aufgefordert, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und neusten WMO-Zahlen ernst zu nehmen und nun in adäquates politisches Handeln zu übersetzen. Ein Vorgaukeln, dass wir auf dem 1,5-Grad-Pfad seien, ist nicht länger tragbar.
Dafür braucht es u.a. eine radikale Gesetzesänderung des Bürokratiemonsters EEG, mit Abschaffung der die Bürgerenergien behindernden Ausschreibungen, Abschaffung aller Ausbaudeckel, ein Ende der Debatte um das Abschaffen von Bioenergie und Wasserkraft und das umfassende Einführen von Energy Sharing. Doch davon ist von Patrick Graichen und der Bundesregierung leider mit diesem Osterpaket nichts vorgelegt worden.
Auch das Ziel von 100 Prozent Erneuerbare Energien bis 2030 müsste wohl im Lichte dieser dramatischen WMO-Ergebnisse bis 2026 vorgezogen werden. Jedenfalls kommt das Regierungsziel mit 100 Prozent Ökostrom bis 2035 so spät, dass dann die Erde längst über 1,5 Grad hinausgeschossen sein wird und sich mit schnellen Schritten auf über 2 Grad und damit in die unbeherrschbare Heißzeit bewegt.
Hans-Josef Fell ist Präsident der Energy Watch Group und Mitautor des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes.