Fahrende Architektur
Von Autos, in denen man lebt, und Rädern, die aussterben
Der tschechische Medienphilosoph Vilem Flusser, der vor 10 Jahren bei einem tragischen Autounfall gestorben ist, hinterließ viele bemerkenswerte Einsichten. Eine der beunruhigendsten war seine Behauptung, dass im Zuge des technischen Fortschritts das Rad aussterben wird, wie dies auch in der Natur geschehen ist.
Zu dieser Zeit schien es schwierig zu sein, das ernst zu nehmen, aber in 10 Jahren kann eine ganze Menge passieren. Und gegenwärtig muss es eine ganze Menge an Fahrern geben, die von Verkehrsstaus hinreichend traumatisiert sind, um einen zweiten Blick auf eine Theoire zu werfen, die beinhaltet, dass Räder aussterben werden. Nicht zuletzt deswegen, weil die letzten Zahlen zeigen, dass in Großbritannien 2001 mehr Autos als jemals zuvor verkauft wurden.
Wir alle wissen, was dies hinsichtlich der Verkehrsdichte bedeutet, aber um Flussers Vorhersage gerecht zu werden, müssen wir lange Zeitreisen bis zu dem Augenblick extrapolieren, an dem der Verkehr nicht nur stationär wird – das wird täglich bereits oft erreicht -, sondern an dem das Gravitationszentrum jeder Reise von der kindischen Vorwegnahme ihrer Vollendung – "Sind wir bald da?" – bis zu dem "point of no return" rückt, an dem die Reise nicht mehr ein Ereignis, sondern eine Lebensweise ist, d.h. an dem die Erfahrung des Fahrens auf einer Straße im eigenen Auto eher der einer Zugfahrt oder noch besser einer Reise mit einem Flugzeug gleicht: "Wir empfehlen, Ihren Sitzgurt die ganze Zeit über geschlossen zu halten." Das ist eine Art statischer Gefangenschaft inmitten der Bewegung, in der das Rad tatsächlich ausgestorben ist.
Aus der Perspektive der strategischen Vermarktung ist vielleicht ein solcher Nullpunkt schon erreicht worden, auch wenn man sagen kann, dass die Hersteller von Motorfahrzeugen vor vielen Jahren schon die Verbesserung der nicht mit der Bewegung zusammenhängenden Teile ihrer Maschinen begonnen haben. Wirklich eingetreten ist aber, dass sie jetzt auch die Verbesserung der mit der Bewegung zusammenhängenden Teile eingestellt haben. Heutzutage sorgen standardisierte Plattformen für all das und lassen die Erfahrung des Innenraums zum neuen Horizont für Ideen werden.
Diesen Aspekt des Fahrerlebnisses in Erwartung langer Perioden stationärer Gefangenschaft ins Auge zu fassen, präsentiert einen faszinierenden Wortschatz neuer Designaufgaben – nicht mehr nur Musik und Halter für Trinkgefäße, sondern auch Kühlschränke, Drehsitze, Esstische und unweigerlich eine Art Hightech-Toilette. Noch wichtiger aber ist, dass damit garantiert wird, dass die Zahl der MPVs (Mehrzweckfahrzeuge) in der Größe eines Ford Transits auf den Straßen sicherlich zunehmen, während die Zahl der Kleinfahrzeuge abnehmen wird.
Ob die Design-Studios der großen Fahrzeughersteller mit den notwendigen Installations- und Vernetzungsarbeiten und dem 3D-Design klar kommen, muss man wahrscheinlich nicht bezweifeln. Schließlich sind das die Leute, die schon lange vor der Baubranche die Herstellung bequemer Sitze, elektrischer Fenster und undurchlässiger Sonnendächer gemeistert haben. Die wirkliche Frage betrifft die Zielrichtung der im hohen Qualitätsstandard erfolgenden Miniaturisierung der Haushaltsausstattung. Auf der Ebene von Mercedes Benz werden diese Autos besser als Fünf-Sterne-Hotels und komfortabler als heutige Limousinen oder Wohnwagen sein. Sie können so entworfen worden sein, um lange Wartezeiten auf verstopften Autobahnen durchzustehen, aber sie werden auch das Potenzial besitzen, ein alternatives Wohnsystem auf Rädern zu werden, das zum ersten zur Produktionslinie einer innovativen globalisierten Industrie werden wird.
Seit Le Corbusier und Walter Gropius waren die Architekten daran interessiert, dass die Autoindustrie ebenso wie Fahrzeuge auch Häuser herstellt. Jetzt sieht es so aus, als wenn der wirkliche Durchbruch erst dann kommen wird, wenn die Fahrzeuge sich selbst in Häuser verwandeln und das Rad so ausstirbt, wie dies in der Natur geschehen ist.