Falken und Realisten
Deutsche Professorenpolitik zum Ukraine-Konflikt. Ist die Neutralisierung des Landes die beste Lösung?
Alle sehen, dass die Situation nicht besser wird. Das Potential für einen Konflikt wächst. Die westlichen Kollegen fördern diese negative Entwicklung.
Sergej Lavrow, russischer Außenminister, Pressekonferenz am 14.01.2022
Bei den außenpolitischen Falken unter den deutschen Professoren ist allmähliches ein nervöses Insistieren auf dem im Ukraine-Konflikt eingeschlagenen Konfrontationskurs erkennbar: Joachim Krause, Direktor des "Institut für Sicherheitspolitik" der Universität Kiel, erklärte am Dienstag im Deutschlandfunk diplomatische Ansätze rundheraus für "sinnlos".
Schach, Poker und Mensch-ärgere-dich-nicht
Weder das Minsker Abkommen noch das Normandie-Format würden Erfolge versprechen. Wenn man ihm zuhört, fragt man sich, ob der Professor gleich Truppen schicken möchte: "Wir haben ja einen ganz klaren Aggressor, das ist Russland."
Russland betreibe seit zehn bis 15 Jahren "eine Politik der Konfrontation gegen den Westen", so Krause. "Die Beschwörung von Dialog und Diplomatie hat alles nichts gebracht." Die "Deeskalationspolitik der Bundesregierung" habe sich nicht ausgezahlt, aus Russland höre man nur "die immergleichen Lügen".
Ins gleiche Horn blies - ebenfalls im Deutschlandfunk - der in London arbeitende deutsche Politikwissenschaftler und Energieexperte Frank Umbach:
"Russland spielt Schach, die Amerikaner spielen Poker, wir spielen Mensch-ärgere-Dich-nicht."
Umbach forderte Drohpotential aufzubauen. "Was wir brauchen ist keine Beschwichtigungspolitik, sondern eine politische Abschreckung, Strategie."
Es gehe hier auch "um europäische Ordnungsgesichtspunkte". Deswegen dürfe man sich hier nicht nur von kurzfristigen Interessen leiten lassen. "Wir wollen Swift nicht nutzen. Wie wollen wir, wenn wir alles ausschließen, wenn wir keine Opfer bringen wollen, das Kosten-Nutzen-Kalkül auch auf russischer Seite, bei Putin so verändern, dass er entsprechend abgeschreckt ist?"
"Druck auf Russland aufbauen." "Putin Grenzen aufzeigen", "immergleiche Lügen" - die Rhetorik sagt alles.
Offen blieb allerdings die wichtigste Frage dieser schönen moralischen Argumentationen: Warum sollten wir Opfer bringen?
Hochtouriger Leerlauf im Westen
In deutlichem Widerspruch zu seinen beiden Kollegen äußerte sich am Mittwoch nun der Hamburger Konfliktforscher und Außenpolitik-Experte Christian Hacke. Hackes exzellentes Interview im Deutschlandfunk ersetzt Dutzende von Leitartikeln und viele andere Interviews im gleichen Sender.
"Die Russen diktieren das Handeln und das ist schon erstaunlich", so Hacke. Auf der Seite der Bundesrepublik sehe er "hochtourigen Leerlauf, Ratlosigkeit, Klein-Klein, denn die Schlüsselfragen werden gar nicht angesprochen".
Diese Schlüsselfragen seien die Interessen Russlands und des Westens: Russland habe deutlich gemacht, dass es nicht zulassen werde, dass die Ukraine sich zunehmend ins westliche Lager integriert, und die USA hätten mit ihrer antirussischen "Einkreisungspolitik" den Konflikt eskalieren lassen: "All die amerikanischen Offerten – Militärhilfe, Angebot der Nato-Aufnahme - das war für Russland zuviel." Daran knüpfte Hacke ein Plädoyer für Realpolitik an:
Wir sprechen gerne im negativen Modus von Einflusssphärenpolitik der Russen. Umgekehrt ist natürlich auch die Forderung des Westens, nun die Ukraine zunehmend in den westlichen Orbit hinein zu ziehen – das kann man umschreiben als "Demokratiepolitik", wo ich ein Fragezeichen setze – aber es ist nichts anderes als westliche Interessenssphärenpolitik. Und das sieht Russland als Einkreisung.
Christian Hacke
"Die Ukraine wäre ein Mühlstein für westliche Sicherheitspolitik"
Die Ukraine sei eben keineswegs Taiwan. Taiwan sei ein Vorbild an wirtschaftlichen Fortschritt und Demokratie. "Die Ukraine – ich belasse es mal dabei – ist das Gegenteil. Die Ukraine wäre ein Mühlstein für westliche Sicherheitspolitik. Die Ukraine wäre ein Mühlstein für die Europäische Union." Der westliche Demokratieexport sei nicht erfolgreich gewesen.
Hacke zitierte einen Bericht des europäischen Rechnungshofs, nach dem die 15 Milliarden Wirtschaftshilfe der EU vor allem die Korruption befeuert hätten und in die Taschen der Oligarchen gewandert seien – "das ist ein korruptes System, das muss man ganz klar sehen. Warum machen wir uns stark dafür?"
Dann skizzierte Hacke die "bedrohliche Achse zwischen Kiew und Washington". Auf US-amerikanischer Seite sieht er "nichts anderes als die Arroganz der Ohnmacht".
Forderung nach Neutralisierung der Ukraine
Welcher Ausweg kann sich eröffnen, und welche Gefahren lauern umgekehrt am Horizont? Wie andere Experten vor ihm fordert Hacke eine Neutralisierung der Ukraine. Es könne sich nur eine Einigung anbahnen, wenn beide Seiten – unausgesprochen oder ausgesprochen – darin übereinstimmen, "dass keine der beiden Seiten den Anspruch erhebt, die Ukraine in den eigenen Orbit hineinzuziehen".
Also keine Nato-Mitgliedschaft und keine Wiedereingliederung ins russische Staatsgebiet. Es muss Putin vielmehr signalisiert werden, dass der Westen die Fronten begradigt. "Einflusssphärenpolitik in Jalta ist auch nicht schriftlich fixiert worden", stellt Hacke nüchtern fest.
Ein neues Jalta oder die Ukraine als das neue Sarajewo
Es zeigt sich: Die These, nach der jedes Land das Recht hat, demokratisch und souverän zu entscheiden, in welches Bündnis es sich denn integrieren möchte, ist nur die schöne Theorie.
Die Realität führt dagegen zur Erkenntnis, dass eine Integration der Ukraine nicht in das strategische Konzept des Westens passt, das an einem Gleichgewicht der Kräfte interessiert ist. In das westliche Bündnis passt die Ukraine erst recht nicht: Denn dieses ist eine Wertegemeinschaft der Demokratien. Und die Ukraine ist kein demokratisches Land.
Es zeigt sich auch, dass Russland eine Einkreisungspolitik - ob militärisch, politisch, ökonomisch oder kulturell - nicht dulden kann.
Was bringt die Zukunft? Alles sei möglich, so Hacke: Sollte man sich nicht auf ein neues "Jalta" verständigen, könne die Situation "wie 1914 ausgehen". Oder es könne zu einer Aufspaltung der Ukraine in einen dem Westen zugewandten und einen an Russland orientierten Teil kommen. Die Ukraine, so Hacke sei jetzt im neuen Kalten Krieg das, was Deutschland im ersten Kalten Krieg gewesen ist: der Brennpunkt des Ost-West-Konflikts.
Besser als ein neues Sarajewo.
"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken von Rüdiger Suchsland. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft".