Fall Amri: Manipulationen durch die Polizei ziehen immer weitere Kreise

Hätte der Anschlag in Berlin verhindert werden können? Am Donnerstag Einsetzung des Untersuchungsausschusses

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Die Manipulationen in den Ermittlungsakten der Polizei zum Attentäter Anis Amri sind noch weitreichender und schwerwiegender als zuletzt bekannt. Das hat der vom Berliner Senat eingesetzte Sonderbeauftragte herausgefunden. Danach wurden Erkenntnisse über bandenmäßigen Drogenhandel Amris erst geheim gehalten und später verharmlost. Was sollte vertuscht werden? Eigene "Schlampereien" - oder, dass man den Tunesier gewähren ließ, obwohl man ihn hätte festnehmen müssen? Hätte der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin am 19. Dezember 2016 mit zwölf Toten demnach verhindert werden können?

Das ganze Ausmaß der Manipulationen ist noch nicht aufgedeckt. Nach Abschluss seiner Untersuchung sei ihm ein weiteres verändertes Schriftstück bekannt geworden, so Sonderermittler Bruno Jost bei der Vorstellung seines Berichtes am Montag vor dem Innenausschuss des Berliner Parlaments.

Außerdem fand er Hinweise auf mindestens einen weiteren Beteiligten innerhalb der Polizei. Auf Aktenmanipulationen war kürzlich auch das TV-Magazin Kontraste des RBB gestoßen. Danach hat das Landeskriminalamt eine Observation Amris vorgetäuscht, die nicht stattfand.

Für die Bundesanwaltschaft (BAW) spielen all diese Widersprüche keine Rolle. Wie Thomas Beck, Leiter der Abteilung Terrorismus in Karlsruhe, den Abgeordneten schilderte, war Amri ein islamistischer Einzeltäter, der sich mit dem IS (Islamischer Staat) verbunden fühlte. Allerdings kann auch die oberste Ermittlungsbehörde eine Reihe von Fragen bisher nicht beantworten. Die, welchen Umgang die Sicherheitsbehörden mit Amri zu seinen Lebzeiten wie nach seinem Tode pflegten, stellt sie sich nicht. Ihr Bericht passt nicht so richtig zu dem des Sonderermittlers.

Strafanzeige gegen mehrere Polizeibeamte wegen Strafvereitelung

Bekannt geworden waren die Vertuschungen in den Reihen der Polizei Mitte Mai. Der Innensenator persönlich ging damit an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig erstattete er Strafanzeige gegen mehrere Polizeibeamte wegen Strafvereitelung.

In der Folge kam es Hausdurchsuchungen bei mindestens fünf Beamten des Landeskriminalamtes (LKA). Darüber hinaus wurde beim Polizeipräsidium eine sogenannte Task Force eingerichtet, die den Ungereimtheiten innerhalb der Polizei nachgehen soll. Deren Ergebnisse stehen noch aus.

Innensenator Andreas Geisel (SPD) wurde von Berufsverbänden der Polizei, Politikern und Medien für sein Vorgehen angegriffen. Der Bericht des Sonderermittlers Jost gibt ihm jetzt Recht. Der Verdacht auf die Aktenmanipulationen wird nicht nur bestätigt, sondern erweist sich als noch schwerwiegender: Die Fälschungen wurden von einem Kreis von Beamten systematisch und planvoll betrieben. Immer noch ist nicht alles klar, die Untersuchungen halten an.

"Gewerbsmäßiger, bandenmäßiger Drogenhandel"

Die Erkenntnisse von Sonderermittler Bruno Jost in Kurzfassung: Aus abgehörten Telefonaten wussten die Ermittler, dass Anis Amri zusammen mit mindestens zwei Komplizen mit Drogen dealte. Die Telefonüberwachung endete am 21. September 2016. Informationen müssen aber auch von verdeckten Ermittlern in der Szene gewonnen worden sein. Einen will Amri erkannt haben. Woher und was das für Folgen hatte, ist unklar. In einem zehnseitigen Vermerk vom 1.November 2016 konstatiert das LKA "gewerbsmäßigem, bandenmäßigen Drogenhandel" Amris. Der Staatsanwaltschaft, die ein Strafverfahren gegen den Verdächtigen einleitete, wurde dieser Vermerk nicht übermittelt.

Dann, nach dem Attentat, wurde im LKA ein kurzer, zweiseitiger Vermerk zu Amri erstellt, in dem die Drogendelikte abgeschwächt werden. Nur noch von "Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln" ist die Rede. Die Mittäter werden unterschlagen. Dieser Vermerk, erstellt am 18. Januar 2017, wird zurückdatiert und wandert mit dem Datum vom 1. November 2016 in die Akten. Gleichzeitig wird er nun an die Staatsanwaltschaft übersandt.

Mindestens drei Kripobeamte sind als Fälscher identifiziert, auf einen vierten gibt es einen Hinweis. Innensenator Geisel spricht bisher weiterhin vom "individuellen Fehlverhalten Einzelner", muss aber einräumen, dass noch nicht klar sei, wie viele dieser Einzelnen es gibt.

Die Sitzung ergab, dass die Polizeispitze offensichtlich auch die politische Führung, sprich die Innenverwaltung, über ihr Wissen zu Amri getäuscht hat. Der FDP-Abgeordnete Marcel Luthe fragte, warum denn Geisels Staatssekretär Torsten Akmann am 23. Dezember 2016, vier Tage nach dem Anschlag, im Innenausschuss Amri als "Kleindealer" bezeichnet hat, obwohl es den konstruierten und verharmlosenden Vermerk des LKA vom 18. Januar 2017 zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht gab. Der Innensenator antwortete, das gehe aus einer Führungsinformation des LKA an sein Haus hervor. Sie sei damals noch nicht mit der Aktenlage abgeglichen worden. Verschiedene Medien wollen diese Führungsinformation vorliegen haben.

Vorgehen hatte Methode

Wie Sonderermittler Jost darlegte, hatte das Vorgehen der Beamten beim Verändern des Vermerks Methode. Von ursprünglich 72 abgehörten Telefonaten, die Grundlage der Erkenntnisse waren, blieben dann nur sechs teils "nichtssagende" übrig. Die Taten wurden bagatellisiert, Amri wurde zum Alleintäter, das Merkmal "Bande" fehlte. Alle Eintragungen zu Amris Komplize Mohamad K. wurden im polizeilichen Informationssystem Poliks gelöscht.

Nach "Erkenntnissen" dieser Art wäre es, so Jost, schwierig geworden, ein Verfahren gegen Amri einzuleiten, ein Haftbefehl wäre unwahrscheinlich gewesen, eine Telefonüberwachung nicht möglich.

Unterlassungen, die die Polizei aber im Nachhinein als gerechtfertigt erscheinen lassen will

Sollte genau das alles vermieden werden? Fakt ist: Ein Haftbefehl wurde im Herbst 2016 nicht beantragt. Die Telefonüberwachung endete im September 2016, die Observation schon im Juni 2016. Es gab also Unterlassungen, die nicht gerechtfertigt waren, die die Polizei aber im Nachhinein als gerechtfertigt erscheinen lassen will.

Für ein bestimmtes Motiv des Handelns der Beamten will Jost "keine belastbaren Erkenntnisse" haben, auf Einflussnahmen von außen keine Hinweise, ebenso wenig auf "flächendeckendes Fehlverhalten von Polizei und LKA". Sollten lediglich "eigene Versäumnisse verschleiert" werden? Dass die Manipulationen "versehentlich" vorgenommen wurden, hält er aber für "wenig wahrscheinlich".

Dagegen spricht auch, dass dem Sonderbeauftragten des Senates nach Redaktionsschluss seines Zwischenberichtes weitere Unregelmäßigkeiten bekannt wurden. Unter anderen ein dritter Bericht über die Delikte Amris. Wo er ihn fand, wollte Jost nicht sagen, da dazu ein Verfahren anhängig sei. Er erklärte nur: "Ich habe ihn gefunden, wo ich es nicht erwartet hätte."

Verfahren "wegen Versuchs der Beteiligung an einem Tötungsverbrechen"

Jedenfalls: Spätestens Anfang November 2016, so der Sonderermittler und frühere Bundesanwalt, der selber einmal Leiter einer Rauschgiftabteilung war, hätten der Staatsanwaltschaft die kriminellen Geschäfte Amris durch die Polizei mitgeteilt werden können und müssen. Das sei umso unerklärlicher, als gegen Amri Monate vorher, im März 2016, in Berlin ein Verfahren "wegen Versuchs der Beteiligung an einem Tötungsverbrechen" eingeleitet worden war. Das wiederum ging zurück auf Ermittlungen des Generalbundesanwaltes wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung.

Amri - eine vielfach aktenbekannte Person also, selbst bei den obersten Staatsanwaltschaften.

In seinen Ausführungen thematisierte der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Thomas Beck, diese Verbindungen mit keinem Wort. Er referierte einerseits inzwischen Bekanntes zu dem Anschlag, andererseits kann seine Behörde grundlegende Fragen zu den Abläufen und Hintergründen bisher nicht beantworten.

Woher kam die Waffe?

Ab Ende November 2016 habe Amri den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche ausgespäht. Am Tattag, dem 19. Dezember, traf er sich am Nachmittag mit zwei Personen. Am Abend besuchte er die Fussilet-Moschee, die er gegen 19 Uhr wieder verließ. Was er dort wollte, ist nicht geklärt. Gegen 19.30 Uhr bemächtigte er sich des LKWs und erschoss den polnischen Fahrer. Um 20 Uhr raste er in die Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz, tötete elf weitere Personen und verletzte über 60. Die Opfer kommen aus über einem Dutzend Länder.

Für die Bundesanwaltschaft (BAW) ist Amri zweifelsfrei als Täter identifiziert. Im Tat-LKW wurde sein Portemonnaie samt einer Duldungsbescheinigung gefunden. Außerdem ein Smartphone und ein Klapphandy im Fußbereich. Außen am Führerhaus fand man seine Fingerabdrücke. Erst auf Nachfrage erklärte Beck, dass auch im Innenraum "zahlreiche festgestellt" wurden, ohne das zu konkretisieren.

Geldbörse und Handys habe Amri absichtlich im Fahrzeug zurückgelassen, so Beck, als Tatbekennung und weil er keine Pläne für die Zeit nach der Tat gehabt habe. Wahrscheinlich sei der 24-Jährige davon ausgegangen, dabei getötet zu werden.

Das Smartphone soll am 24. September 2016 einem schweizer Bürger in Berlin gestohlen worden sein. Das war - kurios - drei Tage nach Beendigung der Telefonüberwachung Amris.

Woher und seit wann Amri die Pistole besaß, mit der der polnische LKW-Fahrer erschossen wurde, ist ebenfalls unklar. Auch, wo er sie am Tattag geholt bzw. in Empfang genommen hat. Ob das in der Fussilet-Moschee geschah, können die Ermittler lediglich spekulieren. Die Waffe Marke Erma (Erfurter Maschinenwerke) soll möglicherweise über die Schweiz nach Deutschland gekommen sein. Amri hatte sie bei sich, als er am 23. Dezember 2016 in Italien in der Nähe von Mailand von Polizisten erschossen wurde.

Fluchtweg immer noch nicht lückenlos rekonstruiert

Auch sein Fluchtweg von Berlin über Emmerich und Frankreich nach Italien ist nicht lückenlos rekonstruiert. Unklar ist vor allem, wie er von Berlin nach Emmerich an der niederländischen Grenze gekommen ist, wo er eine Wohnung hatte.

Dennoch soll Amri in Deutschland keine Helfer oder Mitwisser gehabt haben. Auch im Kreise von Personen nicht, mit denen er zum Teil seit Jahren in Kontakt stand oder die mit dem IS sympathisierten. Zwei von ihnen wurden danach nach Tunesien abgeschoben. Unterstützung und Anleitung soll Amri möglicherweise aus dem Ausland erhalten haben, so BAW-Vertreter Beck. Er stand mit IS-Aktivisten in Libyen in Kontakt. Die Kommunikation liege aber nur bruchstückhaft vor, weil Löschungen vorgenommen wurden. Das Video Amris, in dem er einen Treueeid auf den IS leistet, haben die Ermittler weder auf seinem Handy noch in "seiner Cloud" gefunden.

Ob V-Leute Kontakt zu ihm hatten und ob Amri selber eine Quelle war, diese Aspekte thematisierte Terrorfahnder Thomas Beck nicht.

An den Attentäter knüpft sich unverändert eine Unmenge von Fragen. Was war er? Ein überzeugter islamistischer Mörder, der allerdings bis wenige Wochen vor dem Anschlag Drogen verkaufte, selber nahm und Pornos konsumierte, ehe er sich kurzerhand zum Salafisten gewandelt haben soll? Jedoch: Genau das soll er nach Einschätzung der Behörden bereits schon einmal gewesen sein. Im Frühjahr 2016 galt er als religiöser Fundamentalist und Gefährder, der sich dann im Sommer 2016 ent-islamisiert haben müsste, um sich ganz säkular Sex, Drugs und Rock n Roll zu widmen - ehe er sich im Herbst erneut islamisierte? Seltsame Wendungen.

Ausreisen oder nicht ausreisen?

Warum handelte Amri, wie er handelte? Wollte er weg aus Deutschland oder wollte er bleiben? Im April 2016 äußerte er gegenüber einem Freund, der Amris Reisepass in einer Moschee fand, er brauche den Pass nicht mehr. Doch im Juli 2016 brauchte er ihn auf einmal wieder. Er wollte er aus Deutschland ausreisen und wurde von der Bundespolizei daran gehindert. Später hieß es, man habe ihn abschieben wollen, aber keine Handhabe gehabt.

Warum handelten die Sicherheitsbehörden, wie sie handelten?

Der scheidende Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele (Bündnisgrüne) äußerte, gestützt auf Informationen unter anderem aus dem Parlamentarischen Kontrollgremium, das für die Geheimdienste zuständig ist, folgenden Verdacht: War der Tunesier eine Quelle, mittels der auch die US-Sicherheitsbehörden Informationen über den IS erlangten? Amri soll konkret mit zwei IS-Aktivisten in Libyen in Verbindung gestanden sein. Nahm die deutsche Polizei den Gefährder nicht fest, weil dadurch sonst der IS gewarnt worden wäre? Und stand der Militärschlag der US-Armee im Januar 2017 gegen den IS in Libyen in Zusammenhang mit diesen Informationen?

Ströbele wörtlich: "Wer hält und warum all die Zeit seine schützende Hand über Amri?" Sollte sich seine These bewahrheiten und es hätte eine Absprache zwischen deutschen und amerikanischen Behörden gegeben, dann hätte auch die Polizei in Berlin sicher nicht ohne Rückendeckung von oben, sprich: die politische Führung, so gehandelt wie sie gehandelt hat.

Am Donnerstag beschließt das Abgeordnetenhaus die Einrichtung eines Amri-Untersuchungsausschusses.