Fall Epstein: Journalisten, die fraglos an Selbstmord glauben

Seite 3: "Lassen wir die Profis ihre Arbeit machen"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Auch dieser Zeit-Artikel ist von einem unfreiwillig komischen Moment geprägt. Viele der Äußerungen, die in Richtung derjenigen gerichtet sind, die heterodoxe Ansichten vertreten, lassen sich genauso all jenen unter die Nase reiben, die mit diesen Ansichten ihre Probleme haben.

Um das an einem Beispiel zu demonstrieren:

Fakt ist: Wir wissen es nicht. Noch (!) nicht. Wahrscheinlich wird sich das ändern. Diejenigen jedoch, die sich schon jetzt in den Glauben an die ganz große Verschwörung und Vertuschung flüchten, wird kein noch so logischer Abschlussbericht je erreichen können. Weil die konspirative Mentalität eher Ideologie ist. Weil Verschwörungsglauben mit der Wahrheit nichts am Hut hat. Weil der Verschwörungsdenker das faktische Weltbild längst verlassen hat und einfach glaubt, was er will. Fakten hin oder her.

Jan Skudlarek, Die Zeit

Umgekehrt lässt sich sagen: Diejenigen, die von Anfang an Selbstmord geglaubt haben, werden sich, egal wie groß berechtigte Zweifel auch sein mögen, nie von ihrer Meinung abbringen lassen. Weil der naive Glaube an die orthodoxen Wahrheiten übermächtig ist. Weil der Hang zur Anerkennung der vorherrschenden Weltbilder, zu stark ausgeprägt ist. Weil es an der Bereitschaft fehlt, die Standortgebundenheit des eigenen Denkens zu erkennen. Weil die "Halter des Monopols auf öffentliche Meinung" (Pierre Bourdieu) das faktische Weltbild längst verlassen haben (siehe beispielsweise Ukraine-Krise) und glauben, was sie glauben wollen. Fakten hin oder her. Geradezu antiaufklärerisch lassen sich die folgenden Gedanken verstehen:

Lassen wir die Profis ihre Arbeit machen. Mal sind die Profis Wissenschaftler. In diesem Fall sind die Profis Ermittlungsbehörden - die übrigens aus gutem Grund nicht "Spekulationsbehörden" heißen. Weil sie wirklich ermitteln. Vor Ort, in Teams und mit überindividuellen Erkenntnisgewinnungsprozessen. Kurz: mit Beweisen.

Jan Skudlarek, Die Zeit

Hier kommt er zum Vorschein, der eigene Glauben. "Weil sie wirklich ermitteln". Wie lässt sich eine derartige Aussage noch reinen Gewissens tätigen, wenn man weiß, was sich Ermittlungsbehörden alleine im Fall NSU geleistet haben?

Woher weiß der Autor, dass wirklich ermittelt wird? War er bei den Ermittlungen dabei? Hat er den Ermittlern über die Schulter geschaut? Konnte er sich von den Ermittlungen überzeugen? Wäre es gerade in Anbetracht des Fall Relotius nicht angebracht, dass Redakteure, die solch einen Artikel freigeben, ein wenig sensibler mit derlei wirklichkeitserzeugenden Aussagen umgehen?

An dieser Stelle des Artikels offenbart sich, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als "Doxa" bezeichnet. Etwas vereinfacht: Der Glauben an die natürliche Ordnung der Dinge. In der doxischen Wahrnehmung ist die Realität naiv-natürlich angelegt: Natürlich "ermitteln" Ermittlungsbehörden. Selbst ein Dummkopf weiß das.

Deshalb reden wir von "Ermittlungsbehörden", also Behörden, die "ermitteln" (Tenor: Bitte stören Sie keine doxischen Überzeugungen) Dass Vertreter von Ermittlungsbehörden absichtlich Ermittlungen sabotieren, also beispielsweise nicht richtig ermitteln, das scheint in den angeführten Zeilen geradezu unvorstellbar.

Das Traurige an dieser Stelle ist: Im Fall Epstein geht es um viel. Um sehr viel. Wenn die Anschuldigungen stimmen, dann geht es unter anderem auch um furchtbares Leid. Es spricht für den Niedergag des so genannten Qualitätsjournalismus, wenn er auf einem Fall, bei dem es um sexuellen Missbrauch von Minderjährigen geht, seine (selbstverständlich reine) Glaubenslehre ausbreiten möchte. Während Bürger, die in sozialen Medien ihre Sicht der Dinge veröffentlichen, nicht der Objektivität verpflichtet sind, darf und muss man von Journalisten und ja: auch von Akademikern, die meinen, sich zu Wort melden zu müssen, ein echtes Erkenntnisinteresse erwarten.

Wer bei einem derartigen Fall als "vollprofessioneller" Bestimmer der Wirklichkeit erkennen lässt, dass er eine "Lieblingswahrheit" hat und andere Meinungen abwertet, weil sie als Angriff auf den eigenen Wirklichkeitshorizont erfasst werden, sollte sich besser mit einem Thema auseinandersetzen, bei dem der Verstand weniger durch die persönliche Meinung getrübt ist.

Im Fall Epstein gilt es grundsätzlich misstrauisch zu sein - auch nachdem nun die Ergebnisse der Autopsie vorliegen. Wo sind eigentlich die Interviews mit den Anwälten von Epstein? Wo sind eigentlich die Interviews mit denjenigen, die davon ausgehen, dass Epstein ermordet wurde? Wo ist das vorurteilsfreie journalistische Erkenntnisinteresse?

Wäre es nicht angebracht, dass Journalisten mit jenen Personen sprechen, die von einem Komplott ausgehen, um zu erfahren, warum sie glauben, was sie glauben? Sicher, Fragen wie diese sind zwar angebracht, aber sie sind auch naiv. Die Vertreter eines Weltbildjournalismus müssen nicht mit der anderen Seite sprechen. Sie brauchen keine zwei unterschiedlichen Ansichten, um ausgewogen zu berichten. Wozu auch? Wenn es um Verschwörungstheorien geht, wenn es um Eliten geht, die Schlimmes verbrochen haben sollen, dann "wissen" diese Journalisten von vorneherein, wie die Wahrheit lautet.

So wie in schlechten Krimis der Mörder immer der Gärtner ist, so sind im Mainstreamjournalismus "die da oben" grundsätzlich nicht an einem Komplott beteiligt. War der fehlende Bezug zur Realität in unseren Medien jemals so groß wie heute?

Nachtrag

Die New York Times hat am Sonntag einen umfangreichen Beitrag veröffentlicht, worin sich drei Reporter mit den Hintergründen von Epsteins Tod auseinandersetzen. Der Artikel, der erfrischend sachlich geschrieben ist, legt nahe, dass Epstein Selbstmord begangen hat. Logische Brüche bleiben dem Leser dennoch nicht erspart.

Das Problem allerdings ist: Nahezu alle Hinweise (außerhalb der behördlichen Statements), die sich so interpretieren lassen, dass Epstein Selbstmord begangen hat, sind anonymen Quellen zugeschrieben. In dem Artikel heißt es: "Die Personen, die ihre Begegnungen mit Mister Epstein und die Bedingungen im Gefängnis beschrieben, sprachen fast alle nur unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben. Das hängt hauptsächlich damit zusammen, dass der Tod Epsteins nun die Angelegenheit von mindestens zwei bundesstaatlichen Ermittlungen sind, bei denen es um Mängel bei der Aufsicht eines derart wichtigen Gefängnisinsassen geht." ("The people who described their interactions with Mr. Epstein and the conditions in the jail almost all spoke only on condition of anonymity, in large part because Epstein’s death is now the subject of at least two major federal inquiries into the failure to closely monitor such a high-profile prisoner.")

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Inhalt geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.