Fall Mollath: Verwerfungen unter der Oberfläche des Rechtsstaats
Justizopfer gründet Verein gegen Machtmissbrauch - Tonmittschnitt der Podiumsdiskussion mit Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gustl Mollath
Als am 9. Dezember das Justiz-und Psychiatrieopfer Gustl Mollath im Münchner Literaturhaus von seinem Schicksal erzählte, war es still im Saal (Telepolis berichtete: "Empört Euch!"). Die Besucher der Veranstaltung folgten Mollaths Ausführungen genau. Und im Laufe des Abends stellte sich schnell raus: Unter den Besuchern waren einige, die selbst prägende Erfahrungen mit Justiz und Psychiatrie machen mussten.
Telepolis veröffentlicht nun den Tonmittschnitt der Veranstaltung, die vom Westend Verlag, Telepolis und dem Münchner Literaturhaus im Rahmen der Veröffentlichung des Buches Staatsversagen auf höchster Ebene. Was sich nach dem Fall Mollath ändern muss ausgerichtet wurde.
(MP3, 112 min, 53MB - Bitte um Geduld, dauert ein wenig) am 9. Dezember im Literaturhaus München mit Gustl Mollath, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ex-Bundesministerin der Justiz, Gerhard Strate, Verteidiger von Gustl Mollath, und Henning Ernst Müller, Strafrechtsprofessor an der Universität Regensburg. Moderation Florian Rötzer, Chefredakteur von Telepolis.
Gustl Mollath zeigt derweil selbst Initiative und gründet einen Verein gegen staatlichen Machtmissbrauch. Doch warum muss ein Justizopfer überhaupt einen Verein gegen staatlichen Machtmissbrauch gründen? Wäre es nicht Zeit, dass der Staat endlich selbst Initiative zeigt, um weitere gravierende Fehlurteile zu verhindern? Wenn Unrecht im Namen des Rechts gesprochen wird, und wenn dieses Unrecht bis hinauf zum Bundesgerichtshof als Recht erklärt wird, dann hat der Rechtsstaat in seinem innersten Kern versagt. Gustl Mollath, daran kann heute niemand mehr ernsthaft zweifeln, ist ein Justizopfer. Spätestens seit 2011, das hat das Bundesverfassungsgericht auf den Punkt gebracht, war die Unterbringung von Mollath in der forensischen Psychiatrie rechtswidrig (Fall Mollath: Verfassungsbeschwerde erfolgreich). Mollath hatte nie ein ordentliches Verfahren, so wie es jeder Bürger in einem Rechtsstaat erwarten und beanspruchen darf. Eine unechte Urkunde, die zu einer echten erklärt wird, ein Angeklagter, der sich faktisch ohne Verteidiger verteidigen musste, ein Richter, der die Verteidigungsschrift des Angeklagten ignorierte und den Angeklagten bisweilen anbrüllte, um seine beanspruchten Hoheitsrechte im Gerichtssaal durchzusetzen: Die Liste der Ungeheuerlichkeiten, die den Fall Mollath alleine auf Seite der Justiz umgibt, ist lang - zu lang. Zieht man noch die Rolle der Psychiatrie mit in Betracht, die mit hochumstrittenen "Gutachten" auf sich aufmerksam machte, oder etwa das Agieren der Politik, die nur unter einem massiven Druck der medialen Öffentlichkeit sich des Falls Mollath annahm, dann wird deutlich: Der unheilvollen Trias einer Justiz, die ihren eigenen rechtsstaatlichen Ansprüchen nicht gerecht wird, einer Psychiatrie, deren wissenschaftliche Fundamente nicht das halten, was sie versprechen, und einer Politik, die abwiegelt und Verantwortung von sich weist, kann der einzelne Staatsbürger, der auf rechtsstaatliche Strukturen vertraut, kaum etwas entgegenhalten. Er wird zum Opfer des Staates.
Im Fall Mollath lässt sich der Preis, den der Einzelne mitunter für dieses Staatsversagen zahlen muss, eindeutig festmachen: Über 7 Jahre Freiheitsentzug, das war der Preis, den Gustl Mollath zahlen musste. Doch das Wort Freiheitsentzug transportiert nur unzureichend das, was Opfer der Justiz erleiden. Wer durch ein Gerichtsurteil, wie es im Fall Mollath gefällt wurde, aus seinem Lebenskreis gerissen wird, verliert nicht nur die Freiheit, er verliert im Prinzip sein Leben. Auf der Veranstaltung im Münchner Literaturhaus drückte Mollath es so aus:
Ich muss Ihnen sagen, das, was ich selber erlebt habe, das, was anderen geschehen kann, hier in Deutschland, das sind folterähnliche Umstände.
Was muss anders werden?
Kein Einzelfall
Doch der Fall Mollath ist, auch das hat der Abend im Literaturhaus gezeigt, kein Einzelfall. Wenngleich jedes Justizopfer seine eigene Geschichte hat, so gibt es doch immer wieder Gemeinsamkeiten, die darauf deuten, dass es unter der Oberfläche des Rechtsstaates, gewaltige Verwerfungen gibt.
Schlampige Ermittlungen auf Seiten der Polizei, Staatsanwälte, die entweder nicht motiviert oder gleich übermotiviert sind, Richter, die eine ganz eigenartige Auffassung vom Recht haben, psychiatrische Gutachter, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden und, schließlich, eine Politik, die mit Nachdruck diese Verhältnisse ignoriert. Namen und Fälle wie Gustl Mollath, Ulvi Kulac, Horst Arnold, Harry Wörz, Rudi Rupp oder Mandy Kopp sind vermutlich nur die Spitze des Eisbergs.
Doch wenn man diese Fälle nun zum Anlass nimmt, um einen generellen Feldzug gegen die Justiz oder gegen "das System" zu starten, dann schießt man leicht über das Ziel hinaus. Die genannten Fälle, genauso wie die vermutlich vielen unbekannten Fälle, sind nicht zwangsläufig der Beweis, dass das Justizsystem nicht funktioniert, wie es bisweilen dargestellt wird. Fälle wie der Fall Mollath zeigen vielmehr, dass in der Mitte "des Systems" Akteure eine Rolle spielen, die von innen, also aus "dem System" selbst heraus, das System untergraben.
Im Literaturhaus sagte Mollaths Verteidiger Gerhard Strate sinngemäß, es bedürfe keiner Systemveränderung. Wenn nur alle ihren Job anständig machen würden, wäre schon viel gewonnen. Diese Erkenntnis ist, einerseits, nicht falsch, andererseits: Die Realität zeigt immer wieder, dass Vertreter des Gesetzes die Rechtsprechung geradezu pervertieren.
Was muss anders werden?
Eine ernsthafte Reform, die die Absicht hat, auch zukünftig zu erwartende gravierende Fehlurteile so weit wie nur möglich zu reduzieren, muss an mindestens drei Punkten ansetzen. Sie darf nicht nur von systemischen Schwächen reden, sondern muss erkennen, dass es Akteure gibt, die ihre tragende Position innerhalb des Systems nicht gerecht werden können oder aber schlimmer, ihr nicht gerecht werden wollen. Inkompetenz und "Machtmissbrauch" gehen mitunter Hand in Hand. Diese Personen sind zu identifizieren und es muss ein vernünftiger Weg gefunden werden, wie man mit ihnen umgeht.
An zweiter Stelle, und das ist ein langwieriger Weg, muss eine Fehlerkultur auf Behördenebene entwickelt werden, die nicht von Verdeckung und Verschleierung geprägt ist. Hier sind z.B. bereits die Universitäten gefragt, die die angehenden Juristen fachlich vorbereiten. Da die Etablierung einer der Verantwortung der Justiz und anderer staatlicher Stellen gerecht werdenden Fehlerkultur wohl nur im Dekadenbereich zu erwarten ist, müssen drittens schnellstmöglich Strukturergänzungen geschaffen werden, die den systemischen Unzulänglichkeiten, die vorhanden sind, entgegenwirken können.
Die Möglichkeiten, die die bestehenden Strukturen bieten, um einmal gesprochenes Unrecht zu korrigieren, reichen nicht aus, um gravierende Fehlurteile zu verhindern. Das zeigen ein ums andere Mal Fälle, in denen Bürger Opfer der Justiz werden.
Man kann natürlich auch die Position beziehen, dass doch letztlich das Bundesverfassungsgericht eine "klare Kante" im Fall Mollath gezeigt hat, oder aber, dass der 1. Strafsenat des Oberlandesgericht Nürnberg den Rechtsstaat in Sachen Mollath durch die Anordnung des Wiederaufnahmeverfahrens wieder hergestellt hat. Aber: Ein Rechtsstaat, der mit seinen bestehenden Strukturen viele Jahre braucht, um Unrecht zu korrigieren, benötigt dringend ein paar "Upgrades".
Gustl Mollath hat derweil selbst einen Schritt in die richtige Richtung unternommen. Mollath hat Medienberichten zufolge einen Verein gegen Machtmissbrauch gegründet. Die Initiative mit dem Namen "Macht braucht Kontrolle, wirksame Kontrolle" will sich gegen den Machtmissbrauch von Justiz, Psychiatrie, Politik und Banken stellen.
Allerdings: Dass ein Justizopfer selbst durch die Gründung eines Vereins den Versuch unternehmen muss, staatlichem Machtmissbrauch entgegenzutreten, lässt tief blicken. Die politischen Entscheidungsträger scheinen noch immer nicht gewillt, dem immer wieder zu identifizierendem Unrecht im Namen des Rechts grundlegend entgegenzutreten. Stattdessen setzt die neue Regierungskoalition mit schwammigen Worten im Koalitionsvertrag auf zu erwartendes Flickwerk. Im Vertrag heißt es: "Wir reformieren das Recht der strafrechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern, indem wir insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker zur Wirkung verhelfen. Hierzu setzen wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein." Grundlegende Veränderungen klingen anders.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.