Fall NSU: "Verschwörungstheorie" - Ein substanzloser Begriff hat Konjunktur

Im NSU-Komplex geraten die Vertuscher und ihre Beihelfer zusehends in die Defensive - und in Panik

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Die Bundesanwaltschaft ist am zehnten Jahrestag des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter den zahlreichen Verschwörungstheorien, die zum Fall Kiesewetter kursieren, entschieden entgegengetreten.

Bayrischer Rundfunk, 25.4.2017: Aufräumen mit Verschwörungstheorien

Es gibt noch offene Fragen im Fall NSU, man hätte sie gerne geklärt. Umso ärgerlicher ist es, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine krude Story vorgesetzt zu bekommen, die nicht zur Erkenntnis, sondern geradewegs hinein in den Dschungel der Verschwörungstheorien führt.Süddeutsche Zeitung, 24.4.2017: Wenn das Böse zu banal ist

Anlass der Schimpfereien mit dem unvermeidbaren Rückgriff auf den Begriff Verschwörungstheorie: Die TV-Dokumentation der Fernsehjournalisten Clemens und Katja Riha über den ungeklärten Polizistenmord von Heilbronn, ausgestrahlt am 24. April in der ARD. In dem Stück, das muss erwähnt sein, taucht auch der Autor dieses Textes auf.

Eine Theorie, um damit anzufangen, hat solange ihre Berechtigung, so lange sie nicht widerlegt ist. Nennt sich "Falsifizierungs"-Methode und ist unter anderem mit dem Namen des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper verbunden. "So what" also: Wer meint, da vertrete jemand eine Theorie, die nicht haltbar ist, soll sie doch widerlegen, dann ist sie vom Tisch. Was soll das Gezeter?

Im Fall des NSU-Komplexes wäre das allerdings zu viel des Guten, denn für einen qualifizierten Theorienstreit fehlt den Verschwörungstheorie-Kritikern die Substanz. Sie belassen es durchgängig bei der schlichten Behauptung, die dann mangels Argumenten umso lauter vertreten wird. Zum anderen geht es gar nicht um Theorien, weil nämlich gar keine aufgestellt werden, sondern um journalistische Arbeit, um Fragen, die nicht gestellt werden sollen.

Auffällig ist, dass im NSU-Komplex geradezu inflationär alle als Verschwörungstheoretiker, also Vertreter einer Verschwörungstheorie, angeprangert werden, die nicht die offiziellen Darstellungen teilen.

An oberster Stelle der Inquisition: die Bundesanwaltschaft (BAW). Im Fall Kiesewetter tritt sie den "zahlreichen Verschwörungstheorien", womit die Zweifel an der (Allein-) Täterschaft von Böhnhardt und Mundlos gemeint sind, unter anderem mit dem Argument entgegen, das Duo sei im Besitz der Tatwaffen gewesen.

Nur wenige Jahre ist es her, da war es genau umgekehrt. Im letzten großen Terrorverfahren vor dem NSU, dem Prozess um den Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, war das RAF-Mitglied Verena Becker im Besitz der Tatwaffe, aber trotzdem wollte sie die BAW nicht als Täterin sehen. Vier Wochen nach dem Anschlag im April 1977, mit dem der Deutsche Herbst begann, wurde Becker zusammen mit Günter Sonnenberg festgenommen. Sie hatten unter anderem die Mordwaffe sowie einen Schraubenzieher aus dem Tatmotorrad bei sich. Das sei kein Beweis ihrer Täterschaft, so die Karlsruher Behörde.

Wer Becker als Täterin sah, wie der Sohn des Mordopfers Michael Buback, war in den Augen der Ankläger ein Verschwörungstheoretiker. Bei Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt wurden die Tatwaffen viereinhalb Jahre nach der Tat gefunden. Nun ist derjenige ein Verschwörungstheoretiker, der ihre (Allein-)Täterschaft anzweifelt.

Vor ein paar Monaten wurden im Fall des ermordeten Mädchens Peggy DNA von Böhnhardt gefunden. Ein elfter Mord des NSU? Doch als die Ermittlungsbehörden im März 2017 regelrecht "Entwarnung" gaben, die DNA zu einer verschleppten Trugspur erklärten und ausschlossen, dass Böhnhardt etwas mit dem Fall Peggy zu tun hatte, bezeichnete das das ARD-Magazin "Panorama" mit spürbarer Erleichterung als "Ende einer Verschwörungstheorie".

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