Falsche historische Lehren: Warum der Westen das ukrainische Scheitern nicht versteht

Seite 2: Historische Analogien, die nach Bestätigung suchen

Sich darum zu bemühen, die Ansichten Putins und seines Volkes zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet nicht, "pro-russisch" zu sein, selbst wenn wir diese Ansichten falsch oder abstoßend finden.

Im Gegenteil, eine solche Herangehensweise ist der Schlüssel zu einem "zeitgemäßen Denken" mit genauen historischen Analogien und unerlässlich, um die Illusion zu vermeiden, dass russische Soldaten oder Bürger sich so verhalten werden, wie wir es tun würden.

Am Vorabend der ukrainischen Gegenoffensive erklärte der US-Generalstabschef, Mark Milley, dass es den Russen an Führung und Willen fehle, ihre Moral schlecht sei und ihre Disziplin erodiere. Wenn die wichtigste historische Lektion darin besteht, dass russische Armeen unter Belastung zusammenbrechen, dann sucht man natürlich genau nach Anzeichen von Uneinigkeit und findet bald einen drohenden Zusammenbruch.

So kommt es, dass eine oberflächliche Geschichtsschreibung, die nach Bestätigung sucht, zu einer fehlerhaften Analyse führt. Die ukrainischen Truppen, die durch die heftigen russischen Kämpfe in die Enge getrieben wurden, erklärten gegenüber Milley selbst, dass er sich geirrt habe: "Wir hatten weniger Widerstand erwartet. Sie halten stand. Sie haben eine Führung. Es kommt nicht oft vor, dass man das über den Feind sagen kann".

Während sich die Krise in Kiew vertieft und Schuldzuweisungen an die Öffentlichkeit dringen, sind sich Kommandeure auf allen Ebenen der ukrainischen Streitkräfte einig, dass sie und ihre Nato-Berater die russische Hartnäckigkeit völlig falsch eingeschätzt haben: "Diese große Gegenoffensive beruhte auf einem einfachen Kalkül: Wenn ein Moskal [Schimpfwort für ethnische Russen] einen Bradley oder einen Leopard sieht, wird er einfach weglaufen."

Aber wie wäre es, den Kampf nach Russland zu tragen? Der ehemalige CIA-Direktor General David Petraeus sagte voraus, dass die russische Entschlossenheit in Reaktion auf ukrainische Drohnenangriffe auf Moskau "bröckeln" könnte. Solche Angriffe "bringen den Krieg zum russischen Volk" und könnten Putins Regime davon überzeugen, dass Russlands derzeitiger Krieg in der Ukraine – wie der Kalter-Krieg-Sumpf der UdSSR in Afghanistan – "letztlich unhaltbar" ist.

Tatsächlich sah die alte sowjetische Elite den Afghanistankrieg nicht als ohne Zukunft an, und sie machte sich auch keine großen Sorgen um die öffentliche Meinung. Es bedurfte sowohl eines Generationswechsels als auch eines kühnen neuen Staatschefs, der der Verbesserung der Beziehungen zum Westen Priorität einräumte – Michail Gorbatschow –, um schließlich eine Beendigung des Krieges zu erreichen.

Der Punkt ist nicht, dass Krieg keine Kosten erzeugt. Der Krieg in Afghanistan war teuer, und der Krieg in der Ukraine ist es noch mehr. Der Punkt ist, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Land eine Niederlage in einem großen Krieg akzeptiert, der als lebenswichtiges nationales Interesse gerechtfertigt wurde, solange es nicht sowohl einen neuen Regierungschef als auch einen Wechsel in der Führungselite gibt.

Wann hat die Methode, dem "russischen Volk den Krieg zu bringen", indem man Moskau bombardiert, jemals funktioniert? Die Nato überzog das serbische Volk 1999 mit dem Kosovo-Krieg, indem sie Belgrad bombardierte. Das Volk schlug sich auf die Seite des Diktators Slobodan Milošević.

25 Jahre später sind die Serben immer noch stark pro-russisch und gegen die Nato eingestellt. Und als tschetschenische Rebellen Anfang der 2000er-Jahre Moskau und andere russische Städte bombardierten, scharte das die Russen um Putin und trug zur Rechtfertigung seiner zunehmend autoritären Herrschaft bei.

Das sind keine historischen Spitzfindigkeiten, sondern Beispiele für falsche Analogien, die sowohl strategische Erwartungen als auch taktische Entscheidungen beeinflusst haben. Und sie sind teuer erkauft worden, sowohl mit ukrainischen Menschenleben als auch mit westlicher Unterstützung.

Das Vertrauen in die Eliten in Washington und Brüssel sinkt, auch wenn Offizielle immer noch behaupten, die Ukraine gewinne und Putin könne den Westen "nicht besiegen".

Angesichts der Tatsache, dass die Nato ihre Ausrüstungslager leert und die Fristen für die Produktion neuer Munition verpasst, kann man nur schwerlich zu einem anderen Schluss kommen, es sei denn, man ist in einer anderen, allzu simplifizierten Analogie zum Zweiten Weltkrieg gefangen: derjenigen von Amerika als "Arsenal der Demokratie".

Viele haben die innovative private Waffenproduktion der USA mit Russlands technologiearmen staatlichen Fabriken verglichen und vorausgesagt, dass Moskau seine Munition erschöpfen würde. Stattdessen hat Russland die Behauptung, es habe nur Muskeln und keinen Verstand, immer wieder widerlegt.

Es übertrifft den Westen nicht nur bei Panzern, Artillerie und Granaten, sondern trotzt auch den Sanktionen, indem es neue präzisionsgelenkte Bomben, Drohnen und Raketen entwickelt. Vielleicht haben diejenigen, die den russischen Einfallsreichtum gering schätzen, den Katjuscha-Mehrfachraketenwerfer vergessen, eine legendäre Artilleriewaffe, die sowohl die Deutschen als auch die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg kopierten.

Angesichts der sich abzeichnenden Krise bei den Bemühungen, Kiew mit Munition zu versorgen, ist es sinnvoll, die amerikanische Rüstungsproduktion im Zweiten Weltkrieg näher zu betrachten, als das "Arsenal der Demokratie" in mancher Hinsicht eher Putins Wirtschaft als Bidens ähnelte.

Doch heute steht Washington vor einer Reihe komplexer institutioneller Hindernisse: "Least-Cost"-Produktionsmodelle, die Abneigung von Auftragnehmern gegen Lagerhaltung, Exportbeschränkungen und Umweltvorschriften, die Putin nicht stören.

Eine letzte Lehre aus dem "Wettrüsten" des Zweiten Weltkriegs ist eine Warnung vor technologischer Hybris, wie sie sich in der heutigen Begeisterung über die Überlegenheit westlicher Leopard- oder Abrams-Panzer gegenüber dem russischen T-72 und T-80 zeigt.

Der deutsche Tiger-Panzer war dem sowjetischen T-34 im Zweiten Weltkrieg eindeutig überlegen, aber letzterer war billig, zuverlässig und leicht in großen Stückzahlen zu produzieren. Bei Kursk waren die sowjetischen Panzer den deutschen im Verhältnis 2:1 überlegen.

Wenn also Nato-Planer und Medienexperten angesichts der schweren Verluste, die die Russen bei ihrem Vormarsch in der Schlacht um Awdijiwka erleiden, erneut von "Kanonenfutter" sprechen, sollten sie sich an einen Spruch erinnern, der dem sowjetischen Kriegsführer Josef Stalin zugeschrieben wird: "Quantität hat ihre eigene Qualität."

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Robert English ist Professor und Spezialist für russische und postsowjetische Politik an der University of Southern California. Als ehemaliger Analyst des Verteidigungsministeriums unterrichtet er auch Kurse über Technologie und Konflikte und die politische Ökonomie des Postkommunismus. English hat viel über das Ende des Kalten Krieges und dessen Folgen geschrieben.