Feindbild Journalist?

Seite 2: Der "Hass" zieht westwärts

Weitere aus Sicht der Studienautor:innen wichtige Ergebnisse sind:

a) Die Gewalt ("der Hass") bewege sich in Deutschland auch westwärts: Zwar bleibe das Bundesland Sachsen mit 23 dokumentierten Fällen Negativ-Spitzenreiter, die Angriffe im Westen Deutschlands seien jedoch deutlich zunehmend.

b) eine eher "diffuse politische Zuordnung": 39 Prozent dieser Tätlichkeiten seien 2021 aus dem rechten Spektrum erfolgt, ein Prozent aus dem linken, 60 Prozent seien nicht eindeutig zuzuordnen gewesen.

c) Besorgniserregend sei, dass Journalist:innen sich immer häufiger von der Protestberichterstattung zurückzögen.

d) Der jüngste Winter sei besonders von Gewalt gegenüber Medienschaffenden geprägt gewesen: 19 Fälle im Dezember 2021, 18 Fälle im Januar 2022 - noch nie seit 2015 seien in zwei Monaten so viele Fälle erfasst worden. Insgesamt dokumentierte das ECPMF in den sechs Jahren seines Bestehens und dieser Studien in Deutschland 265 Fälle von Gewalt gegenüber Journalist*innen.

Die wichtigsten Entwicklungen des vergangenen Jahres fasst die Studie wie folgt zusammen:

I. Unangemeldete Spontanproteste hätten ein nochmals gestiegenes Gefährdungsniveau für Medienschaffende mit sich gebracht.

II. Die Gewalt gegenüber Journalist:innen trete immer häufiger auch in Westdeutschland auf, Sachsen und Berlin blieben aber überdurchschnittlich gefährliche Regionen.

III. Die Bedrohungen gegen Lokaljournalist:innen im ländlichen Raum hätten zum Jahreswechsel 2021/2022 deutlich zugenommen.

IV. Der Hass gegen erkennbar journalistische Medien habe sich, getrieben von pandemiebezogenen Protesten, in einer Allianz aus AfD-Anhänger:innen, Rechtsextremen und bürgerlich auftretenden Personen weiter verfestigt.

V. Eine kleine Gruppe von sich politisch gegen die pandemiebezogenen Proteste positionierenden Journalist:innen ziehe einen Großteil der Angriffe auf sich (siehe oben). Als Beispiel wird angeführt: "So zog etwa das Dresdner Journalistenkollektiv vue.critique mit 13 Angriffen mehr Fälle auf sich als beispielsweise im Jahr 2017 insgesamt zu verzeichnen waren."

Die Sächsische Zeitung aus Dresden schrieb am 30.1. dieses Jahres zu vue.critique:

"Vue Critique" nennt sich der Twitter-Account – übersetzt: "Kritischer Blick". Dahinter stecken zwei Schüler aus Dresden. Sie dokumentieren mit ihren Aufnahmen, was auf Demonstrationen in Sachsen seit Monaten passiert. Mittlerweile schauen Medien aus ganz Deutschland auf den Account.

VI. Das Ausmaß nicht-tätlicher Bedrohungen habe nach einhelliger Aussage der Betroffenen während der Pandemie nochmals zugenommen – im Netz und in der physischen Öffentlichkeit.

Zur regionalen Aufteilung in Deutschland insgesamt heißt es in der Studie: In Sachsen seien 23 Fälle dokumentiert worden, in Niedersachsen 21, in Berlin 14, in Bayern 10, in Baden-Württemberg 6, in Thüringen und Hessen je 3 sowie in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein je 1.

Im Januar 2022 hatte der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) von der Polizei mehr Sensibilität für die Pressefreiheit gefordert – vor allem im Umfeld von Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. "Immer häufiger kommt es bei Demonstrationen zu Rangeleien und handfester Gewalt gegen Medienschaffende." Dort werde aufgepeitscht mit dem Feindbild Medien, hatte DJV-Vorsitzender Frank Überall damals gesagt.

Allerdings bleibt auch hier zu ergänzen – was Transparenz mit Blick auf die eigenen Strukturen und Quellen angeht, was die Wahrnehmung und Artikulation (nicht: Gutheißung) möglichst aller wichtigen Tendenzen in der Gesellschaft betrifft, was die Vielfalt der Quellen, Perspektiven, Themen, Meinungen und Darstellungsformen ausmacht – da haben journalistische Medien sicher manchen Grund zur Selbstkritik und damit "Luft nach oben" – nicht zuletzt die etablierten, reichweitenstarken Medien hierzulande.

Auch, damit wir nicht hinter den Status quo von 1844 zurückfallen, den Heinrich Heine in seinem satirischen Vers-Epos "Deutschland, ein Wintermärchen" so zeitlos treffend beschrieben hatte, hier im Caput 25:

Gedankenfreiheit genoß das Volk;

Sie war für die großen Massen;

Beschränkung traf nur die g'ringe Zahl;

Derjen'gen, die drucken lassen.