Festung Europa: EU will Migration im Mittelmeer mit Kriegsschiffen eindämmen
Zusammen mit der EU-Grenzpolizei FRONTEX und Italien sollen Militärs der EU-Mitgliedstaaten Flüchtlinge aufspüren. Auch Libyen, Ägypten und Tunesien könnten mitmachen
Nach den Schiffsunglücken vor Lampedusa Anfang Oktober blieb auch die Europäische Union nicht untätig: Auf Vorschlag Italiens wurde die Angelegenheit zunächst auf das Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg gehievt. Im Ergebnis richteten die Minister eine "Taskforce Mittelmeer" ein, die von der EU-Kommission geführt wird. Ihr gehören neben den Mitgliedstaaten und weiteren Agenturen auch der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) an. Der EAD ist für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zuständig, also die Gemengelage zwischen Außenpolitik und Militäreinsätzen.
Die "Task Force" soll Vorschläge für das nächste Innenministertreffen am 5. Dezember machen, die dort zunächst beraten und zwei Wochen später auf dem EU-Gipfel eingebracht werden. Allerdings geht es dabei vor allem um kurzfristige Maßnahmen, die Migration auf dem Mittelmeer zu kontrollieren und einzudämmen.
Nun hat der zivil-militärische Auswärtige Dienst ein Papier, das eine von der EU geführte Militärmission im Mittelmeer anregt. Dies war anscheinend am 24. Oktober von der italienischen Regierung gegenüber dem EAD vorgeschlagen worden.
NATO- Flottenverband unter italienischer Leitung?
Italien hat im Oktober selbst eine gemeinsame Operation von Marine, Luftwaffe und Küstenwache gestartet, um die Überfahrt von Flüchtlingen von Libyen oder Tunesien zu verhindern (Mare Nostrum oder: Ihr habt hier nichts zu suchen!). Auf den Kriegsschiffen fahren wohl auch Angehörige Hilfsorganisationen mit. Laut dem EAD könnte die EU-Militäraktion von der Kommandozentrale im britischen Northwood gesteuert werden, die auch die EU-Mission ATALANTA leitet. Möglich wäre aber auch die Aktivierung eines Hauptquartiers in Rom. So könnte auch die "Standing NATO Maritime Group 2" eingebunden werden. Dabei handelt es sich um einen Flottenverband von sieben Kriegsschiffen, mit denen die NATO im Mittelmeer kurzfristig einsetzbare Kräfte vorhält.
Der Militäreinsatz könnte laut dem EAD mit FRONTEX und "Mare Nostrum" kooperieren, die eingesetzten Kriegsschiffe der EU-Mitgliedstaaten ebenfalls Migranten aufspüren und ihre Boote aufbringen. Womöglich werden dann auch hochfliegende Drohnen eingesetzt, wie sie bereits in EU-Forschungsprojekten getestet und Einsatzgebiete festgelegt werden. In der Mission "Mare Nostrum" setzt Italien nach Medienberichten bereits Drohnen ein (Italien fliegt "Sensenmann" gegen Migranten und die Mafia).
Der "Mehrwert" einer EU-Operation wird vom EAD vor allem mit besseren Aufklärungskapazitäten angegeben. Zwar ist die EU-Agentur FRONTEX derzeit mit zwei Missionen zur Bekämpfung unerwünschter Migration auf dem Mittelmeer aktiv. Bis April 2014 will die Agentur zwei Flugzeuge, zwei Helikopter und fünf Patrouillenschiffe einsetzen. Von Januar bis September (also vor dem Sinken der Schiffe vor Lampedusa) habe FRONTEX laut EAD 28.000 Migranten auf dem Meer aufgebracht, 426 Personen überlebten die Reise demnach nicht.
Dass neue EU-Maßnahmen zur Aufrüstung der Grenzüberwachung zu noch riskanteren Überfahrten und mithin noch mehr Toten führen könnte, bestätigt der EAD sogar. Dies würde demnach vor allem zu noch mehr Schmuggel und "Menschenhandel" führen. An Überwachungskapazitäten im Mittelmeer mangelt es aber nicht: Am 2. Dezember geht das neue Grenzüberwachungssystem EUROSUR in zunächst 18 Mitgliedstaaten in Betrieb. Bilder und Daten verschiedener Sensoren werden von "nationalen Koordinierungszentren" an den Außengrenzen in Echtzeit übermittelt, FRONTEX in Warschau fungiert als Hauptquartier. Die Informationen können entweder an andere Staaten weitergegeben werden oder dienen als Grundlage für Risikoanalysen und sonstige Maßnahmen der EU-Grenzpolizei.
Militärische Kooperation mit Libyen, Ägypten, Tunesien
Auch die zweifelhafte Kooperation mit Behörden nordafrikanischer Länder soll nun ausgebaut werden: Die Regierungen könnten nach dem Vorschlag des EAD ebenfalls militärische Kapazitäten für die EU-Operation zur Verfügung stellen. Mehrmals wird die EU-Mission in Libyen genannt, die jährlich 30 Millionen Euro für den Aufbau und die Ausbildung einer militärischen Gendarmerie zur Grenzüberwachung investiert (Deutsche Polizei hilft bei militärischer Grenzsicherung in Libyen).
Der militärische Charakter der vorgeschlagenen EU-Mission im Mittelmeer wird vom EAD sogar gelobt, um Tunesien, Ägypten und Libyen eine Teilnahme überhaupt zu ermöglichen: Denn die Länder hätten kaum grenzpolizeiliche Kapazitäten, die auf hoher See eingebracht werden könnten. So könne die Operation sogar dazu dienen, entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln. Angeregt wird eine "flankierende Unterstützung". Genannt werden "Entwicklungshilfe, Abbau von Handelshemmnissen" sowie die Schaffung von Möglichkeiten kontrollierter Migration.
Die EU-Operation im Mittelmeer soll einen "günstigen Moment" schaffen, derzeit geführte Gespräche zur Migrationskontrolle zum Abschluss zu bringen: Mit Marokko und der Türkei wird seit Jahren ein sogenanntes "Rückübernahmeabkommen" verhandelt. Die EU will damit Flüchtlinge ungehindert in die Länder zurückschieben, sofern sie über deren Grenzen in Mitgliedstaaten einreisten (Türkei wird Teil des EU-Abschiebebetriebs). Allerdings weigern sich die beiden Länder, da ihnen im Gegenzug Zugeständnisse seitens der EU fehlen. Nun schlägt der EAD weitere "finanzielle Unterstützung" vor, die im Falle der Türkei an die Syrien-Politik gekoppelt werden müsste. Dies könnte sich demnach sogar positiv auf die EU-Beitrittsverhandlungen auswirken.
Maßnahmen müssten sich laut dem EAD nicht auf das südliche Mittelmeer beschränken: Denn auch in Jordanien und dem Libanon engagiert sich die EU zur Bekämpfung unerwünschter Migration. Die Anstrengungen könnten in der Gesamtschau der anvisierten Militäroperation berücksichtigt werden. Mit Jordanien, Algerien und Tunesien wird eine "Mobilitätspartnerschaft" angestrebt, die zunächst geringfügige Reiseerleichterungen beinhalten könnte. Besonders hervorgehoben wird im EAD-Papier aber die Reorganisation des Sicherheitsapparates, mit dem die EU, aber auch Deutschland die Regierung in Tunis massiv unterstützen. Auch diese Kapazitäten könnten im Mittelmeer genutzt werden.
"Festung Europa", "Kriegsschiffe gegen Flüchtlinge"
Im EAD-Papier wird selbst darauf verwiesen, welch hohe politische Brisanz eine Militärmission im Bereich von Migration und Asyl haben könnte. Gewarnt wird vor einem "negativen medialen Effekt", wenn etwa Zeitungen mit Überschriften wie "Festung Europa" oder "Kriegsschiffe gegen Flüchtlinge" aufmachen würden.
Es dürfte sich um eine selbsterfüllende Vorhersage handeln: Denn in der Mitteilung verliert der EAD kein Wort darüber, wie zu verfahren wäre, wenn Schiffe auf offener See aufgebracht wurden. FRONTEX, aber auch Italien und Griechenland stehen derzeit unter heftiger Kritik, weil sie Flüchtlinge den Behörden Libyens, Tunesiens oder der Türkei übergeben, ohne dass Anträge auf Asyl geprüft werden könnten. Flüchtlingsorganisationen haben hierfür den Terminus "Push back-Operationen" geprägt.
Es kann kaum erwartet werden, dass ein Militäreinsatz diese menschenrechtswidrige Praxis korrigieren könnte. Im Gegenteil steht zu befürchten, dass die EU-Migrationspolitik nun weiter militarisiert wird - die zynische Antwort der EU auf die emanzipatorischen Umbrüche in den Ländern südlich und östlich des Mittelmeers.