Flucht aus Libyen: Milizen an den Push-Knöpfen

Libysche Küstenwache bei der Arbeit: Foto: coast guard libya

Das Rettungsschiff Sea Watch 3 sucht einen sicheren Hafen für 65 Migranten

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Das Rettungsschiff Sea Watch 3 sucht mit 65 aus Seenot geretteten Menschen an Bord nach einem sicheren Hafen. Die Situation ist bekannt. Nach bisherigen Erfahrungen wird es eine Zeit dauern, bis sich europäische Länder über die Verteilung der geretteten Migranten geeinigt haben und sie daraufhin einen Hafen zum Anlaufen bekannt geben.

Die zuletzt üblichen Szenarien laufen darauf hinaus, dass die Geretteten von der Sea Watch 3 in Booten beispielsweise der Küstenwache von Malta auf offener See übernommen werden oder die Sea Watch 3 darf einen EU-Hafen anlaufen, wird danach aber dort festgehalten. Derzeit ist das Schiff das einzige "dezidierte Rettungsschiff", das vor der libyschen Küste aktiv ist.

Die Rettungsaktion spielt sich vor einem schwierigen Hintergrund mit mehreren Konfliktebenen ab, die sich im Vergleich zu den vorherigen ähnlichen Dramen der Seenotrettung vor der Küste Libyens verschärft haben. So ist zwar das prinzipielle "Nein" des italienischen Innenministers Salvini zur Anlandung eines NGO-Schiffes mit Geretteten an Bord in einem italienischen Hafen bekannt, jetzt will Salvini aber die Rettungstätigkeiten der NGOs mit einem Dekret noch weiter erschweren.

Salvini will Geld von Seenotrettern

Sollte sein Entwurf von der Regierung in Rom angenommen werden, so würden künftig "Zahlungen von 3.500 bis 5.500 Euro pro Person fällig, die aus Seenot gerettet wurde, kein italienischer Staatsbürger ist und infolge der Rettung nach Italien gebracht wird - wenn das Rettungsschiff sich nicht an die "operativen Instruktionen hält, die von den Behörden ausgegeben wurden, die für die Zone verantwortlich sind, wo die Rettung stattgefunden hat, oder von den Behörden des Flaggenstaates", wie es der Guardian berichtet.

Dort wird hinzugefügt, dass in schwerer wiegenden Fällen auch die Lizenz zum Transport von Menschen an Bord für die Dauer von einem Monat bis zu einem Jahr entzogen werden kann.

Auch wird ein Rechenbeispiel aufgemacht, um die Dimension zu veranschaulichen. Allerdings "hinkt" das Beispiel beträchtlich, weil das Dekret, sollte es bewilligt werden, nach bisherigen Informationen keine Rechtskraft im Nachhinein haben dürfte. Wäre dies der Fall, so rechnet der Guardian vor, müsste die NGO Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) 440 Millionen Euro für die 80.000 Geretteten bezahlen, die in den letzten drei Jahren von ihren Schiffen gerettet wurden und in Italien landeten.

Human Rights Watch verurteilt das Vorhaben scharf und appelliert an die Regierungkoalition in Italien die neue Regelung abzulehnen. Salvini würde damit ein "Preisschild auf das Recht zu leben" schaffen und auch Handelsschiffe darin entmutigen, Aktionen zur Lebensrettung durchzuführen.

Die Notwendigkeit solcher Aktionen zeigt sich laut Sea Watch dringender denn je.

Alles muss man selber machen. Am Wochenende hat sich wieder einmal gezeigt, was passiert, wenn man der EU und ihren Verbündeten das Mittelmeer überlässt: Während sich kein einziges Rettungsschiff im Einsatzgebiet befand, nahmen die Bootsabfahrten aus Libyen zu. 70 Menschen starben, 240 weitere wurden, im Auftrag Europas, durch die Libyer zurück verschleppt. (..) Wir sind zurück, um dieser Barbarei etwas entgegen zu setzen und europäische Werte zu verteidigen, statt sie nur auf Wahlplakaten zu beschwören.

Philipp Hahn, Einsatzleiter der Sea-Watch 3

Man habe im aktuellen Fall "die Behörden in Malta, Italien und den Niederlanden (dem Flaggenstaat Sea-Watch 3), sowie die sogenannten libyschen 'Behörden'" über die Rettung informiert, heißt es in der Meldung der NGO zu den 65 aus Seenot geretteten Menschen. Darunter sollen sich elf Frauen befinden, eine Person mit Behinderung, zwei Babys, fünf Kinder und acht unbegleitete Minderjährige. Zu den Herkunftsstaaten der Personen an Bord der Sea Watch 3 werden keine Angaben gemacht.

Wieder mehr Abfahrten und Tote

Tatsächlich hat sich die Situation vor der Küste in Libyen verändert. Es gibt seit Kurzem wieder deutlich mehr Boote mit Migranten, die von der libyschen Küste aus ablegen, und es kam dabei in der jüngsten Vergangenheit zu tödlichen Dramen. Das zeigen aktuelle Berichte wie etwa von der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

Die Organisation berichtet von 59 "Verschwundenen" am 10. Mai, nachdem ein Boot mit Migranten, das von Zwara (oder auch: Swara) ablegt hat, vor der tunesischen Küste kenterte. Das Boot soll am 7. Mai von Swara aufgebrochen sein. Am selben Tag, so die Informationen von IOM, habe auch ein anderes Boot von der lybischen Küste aus eine Reise angetreten, die eine Rettungsaktion nötig machte. Tunesische Fischer hätten am vergangenen Samstag 69 Migranten gerettet. Auch die tunesische Küstenwache sei aktiv gewesen:

Vom 9. bis 12. Mai haben die tunesische Küstenwache und Marineeinheiten präventive Operationen durchgeführt, die Versuche unterbunden haben, irreguläre Überquerungen von Sfax, Sousse, Monastir, Bizerte und Tunis zu versuchen, mit mehr als hundert Migranten.

IOM

Die Organisation macht in ihrem Bericht darauf aufmerksam, dass dies ein Auftakt sein könnte, da nun die wärmere Jahreszeit begonnen hat.

Nachtrag: Anteil der Toten gegenüber 2018 außerordentlich gestiegen

Die aktuelle Bilanz des IOM zeigt, dass die Ankünfte von Migranten, die von Januar bis Mitte Mai dieses Jahres über das Mittelmeer nach Europa kamen, einen kleinen Bruchteil gegenüber dem Vorjahreswert für den gleichen Zeitraum ausmachen - 1.181 gegenüber 13.430 (!) - der Abstand bei den Zahlen der Toten bzw. Verschwundenen dagegen sehr gering ist. 2019 werden bisher 307 Tote gemeldet, im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum, bei sehr viel mehr Überfahrtsversuchen, 384 Tote.

Im vergangen Jahr zählte man bis Mai 22.401 versuchte Überfahrten. In diesem Jahr sind es bis Mitte Mai 2.254. Der Unterschied zeigt sich deutlich beim Quotient aus der Zahl der Toten und den Überquerungsversuchen ("Proportion of deaths vs attempted crossings"). 2018 lag er bis Mitte Mai bei 1,7 Prozent. 2019 bei 13, 6 Prozent.

Libysche Küstenwache wieder aktiv

Auch die libysche Küstenwache meldet sich wieder mit Tätigkeitsberichten - eine Zeitlang hieß es, dass sie ihre Arbeit wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen um Tripolis eingestellt habe. Am Sonntag, den 12. Mai, meldete sie über Twitter, dass bei Patrouillen "204 Migranten gerettet" wurden, deren Anlandung in Tripolis vom "UNHCR und dem IOM unterstützt" wurde.

Die Anwesenheit des IOM wird mit Bildern auf dessen Twitterauftritt bestätigt, allerdings ist dort von Betreuung nicht viel zu sehen. Es heißt lediglich, dass die Ankommenden medizinisch überprüft wurden.

Einige Tage zuvor, am 8. Mai, waren 214 Migranten von der libyschen Küstenwache zurückgebracht worden und bei dieser Meldung drückte das IOM seine Sorge über die "Rückkehr und die willkürliche Haft der Migranten in Libyen" aus.

Situation für Migranten durch Kämpfe in Libyen verschlimmert

Die Situation für die inhaftierten Migranten in Libyen hat sich, wie bereits berichtet, durch die Kämpfe in Tripolis verschlimmert. Die Lager in der unmittelbaren Umgebung der Hauptstadt werden von den kriegerischen Auseinandersetzungen beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, das UNHCR fordert daher zu weiteren Evakuierungen auf.

Vor diesem Hintergrund stellt UNHCR-Leiter Vincent Vincent Cochetel noch einmal heraus, wie falsch die Annahme sei, dass die Seenotrettung durch die NGOs das Ablegen von Booten mit Migranten an der libyschen Küste "triggert" - es gebe in Libyen zahlreiche Push-Faktoren.

Im Zentrum der Push-Apparatur sitzen die Milizen, wie das ein Hintergrundbericht neu darlegt, der im März dieses Jahres erschienen ist. Er stammt federführend von Mark Micallef und ist eine Revision seines ersten Berichts, der, wie auch hier berichtet, noch von einem "Migrations-Fließband" ausgegangen ist.