Flucht und Migration: Notstand am "Nadelöhr" der EU

Die italienische Insel Lampedusa liegt nah an der tunesischen Küste. Das macht sie zum "Nadelöhr". Lampedusa_island.jpg:Foto: Luca Siragusa / CC-BY-2.0

Italien gilt als überfordert. EU verspricht rechter Regierungschefin Meloni Abhilfe. In deren Kabinett gibt es aber auch unerwartete Sichtweisen. Diese Zahlen sollten Sie kennen.

In der Spitze waren es angeblich bis zu 7.000 Menschen innerhalb von 24 Stunden, die in diesem Monat auf der italienischen Insel Lampedusa unweit von der tunesischen Küste entfernt ankamen. Manchmal waren es auch weniger, vergangene Woche rund 10.000. Aber das Aufnahmezentrum ist nach Medienberichten völlig überfüllt. Viele, die von Nordafrika in die EU wollen, landen zunächst auf dieser Insel. Dort wurde vor wenigen Tagen der Notstand ausgerufen.

Italiens stramm rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte in ihrem Wahlkampf eigentlich eine drastische Eindämmung der "irregulären Migration" versprochen. Am Montag beschloss Melonis Regierung ein weiteres Maßnahmenpaket. Es sieht unter anderem vor, "in abgelegenen und bevölkerungsarmen Gegenden" neue Abschiebelager zu bauen und die maximale Aufenthaltsdauer in diesen Zentren von bisher zwölf auf 18 Monate erhöhen.

Von der Leyen will Meloni unterstützen

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Meloni bereits Unterstützung zugesagt: "Irreguläre Migration ist eine europäische Herausforderung und erfordert eine europäische Antwort", sagte von der Leyen am Sonntag während eines Besuchs auf der Mittelmeerinsel. Im Beisein der Ministerpräsidentin stellte sie einen "Zehn-Punkte-Plan für Lampedusa" vor.

Neben der Europäischen Asylagentur EUAA soll demnach auch die Grenzschutzagentur Frontex eine zentrale Rolle spielen. Auch eine intensivere Zusammenarbeit mit der tunesischen Küstenwache wird angestrebt; außerdem ein härteres Vorgehen gegen mutmaßliche Schleuser und mehr Rückführungen von abgelehnten Asylsuchenden.

Auf die Forderung Melonis nach einer europäischen Mittelmeer-Mission, die schon Abfahrt der Boote von der nordafrikanischen Küste unterbinden soll, reagiere von der Leyen zunächst noch zurückhaltender. Sie unterstütze es, Optionen zur Ausweitung bestehender Marineeinsätze im Mittelmeer auszuloten oder an neuen Einsätzen zu arbeiten, so von der Leyen.

Die Postfaschistin Meloni wird jedenfalls von deutschen Spitzenpolitikern auf dem internationalen Parkett deutlich anders behandelt als die ihr inhaltlich nahestehende AfD innerhalb Deutschlands. Über Aus- und Abgrenzungsversuche kann sie sich nicht beschweren.

Im ersten Sommer nach ihrem Amtsantritt 2022 hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei einem Besuch in Rom die "gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien" gewürdigt. Schließlich bekennt sich Meloni zur EU und zur Nato – Postfaschistin hin oder her. Und schließlich will auch die Ampel-Bundesregierung Migration eindämmen, ohne an der Grenze zu Österreich einen "Eisernen Vorhang" erreichten zu müssen. So kommt es zur engen Kooperation mit dem Mittelmeer-Anrainer Italien.

"Die Menschen dort flüchten, um nicht zu sterben"

Allerdings scheint sich dort auch ein neuer Realitätssinn zu etablieren. Italiens Außenminister Antonio Tajani erklärte laut einem Bericht der österreichischen Zeitung Der Standard, warum er nicht glaubt, dass allzu simple Abschreckungsmaßnahmen das Problem lösen können. Diese Sätze sind auch deshalb bemerkenswert, weil sie von einem rechten Politiker der "Forza Italia" kommen.

Selbst er spricht nicht verharmlosend von "Wirtschaftsflüchtlingen", die durch schikanöse Behandlung von der Einreise abzuhalten wären, sondern scheint eine realistische Lageeinschätzung vorzuziehen:

Angesichts von Krieg, Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Hunger und Terrorismus in den Herkunftsländern nützen uns Notmaßnahmen wenig: Die Menschen dort flüchten, um nicht zu sterben.


Antonio Tajani, Forza Italia

Allein in Afrika würden im Jahr 2050 rund 2,5 Milliarden Menschen leben – "das ist die Dimension, von der wir reden, nicht die 10.000 Migranten auf Lampedusa", habe Tajani gegenüber dem italienischen Corriere della Sera betont. Das Problem müsse in seiner ganzen Komplexität angegangen werden. "Selbst wenn es uns gelingen würde, Tunesien und Libyen 'dicht' zu machen – dann würden die Migranten am Tag darauf von Marokko und Algerien kommen."

Der Minister sieht demnach nur eine Möglichkeit, die Situation in den Griff zu bekommen: Diplomatie, unter Einbezug der Vereinten Nationen, sowie die wirtschaftliche Kooperation mit den Herkunftsstaaten.

Abgesehen von solchen Zukunftsszenarien nennt Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination Österreich aktuelle Zahlen, Daten und Fakten zur Einordnung des Geschehenes. Wie groß ist die Überforderung tatsächlich? - Das "Notstandsgeheul" benötige Einordnung, meint er. Lampedusa sei ein "Nadelöhr", an dem leicht entsprechende Bilder produziert werden könnten.

Italiens Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren geschrumpft

Aktuell habe Italien eine Bevölkerung von rund 59 Millionen Menschen – die in den letzten zehn Jahren um rund 650.000 abgenommen habe, betont Gahleitner-Gertz. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde ISTAT lag die Einwohnerzahl im März dieses Jahres sogar unter 59 Millionen. Klar ist, dass sie zuletzt geschrumpft ist.

Die exakte Zahl der Asylanträge lag laut Gahleitner-Gertz seit 2013 in Italien bei insgesamt 652.075. Das seien 9,42 Prozent aller Asylanträge in der EU gewesen – während Italien rund 13 Prozent der EU-Bevölkerung stellt. "Das sind pro Jahr ca 65.000 Asylanträge. Oder ein Asylwerber pro Jahr pro 1.000 Einwohner:innen." Gewährt wurden in diesen zehn Jahren allerdings nur 313.525 Schutztitel in Asylverfahren.

Im selben Zeitraum habe Italien 2,4 Millionen Aufenthaltstitel an Drittstaatsangehörige in der regulären Zuwanderung erteilt – etwa acht mal so viele wie über das Asylsystem. Dennoch schrumpfe die Bevölkerung Italiens. Zumindest bisher.

Allerdings will Meloni natürlich – wir kennen es von der deutschen Ampel- Regierung und den Unionsparteien – lieber Einwanderung von fertig ausgebildeten Fachkräften. Etwa eine halbe Million will sie in den nächsten drei Jahren nach Italien holen.

Seit Dezember nimmt Italien keine Asyslsuchenden über das Dublin-System mehr zurück. Zuletzt seien über die zentrale Mittelmeerroute rund 115.000 Menschen gekommen. Im Vorjahr waren es im selben Zeitraum etwa 60.000.