Forschungsskandal: Deutsche Forschungsgemeinschaft und Niels Birbaumer schließen Vergleich
- Forschungsskandal: Deutsche Forschungsgemeinschaft und Niels Birbaumer schließen Vergleich
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Der 2019 wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens geschasste Tübinger Hirnforscher zog vor Gericht. Jetzt erzielte er einen Durchbruch bei "Gehirnschreibmaschinen" für Gelähmte. Ist er damit rehabilitiert?
In der deutschen Hirnforschung ist "Niels Birbaumer" ein schillernder Name: Nachdem er bereits 1975 an der Universität Tübingen zum Professor ernannt wurde, übernahm er dort schließlich von 1993 bis 2013 die Leitung der Medizinischen Psychologie. Danach arbeitete er als Seniorprofessor weiter.
Am bekanntesten wurde Birbaumer mit seiner bahnbrechenden Forschung mit gelähmten Patienten. Bei einer fortschreitenden Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) sterben immer mehr motorische Nervenzellen ab.
Die Betroffenen sind irgendwann an den Rollstuhl gefesselt, können im Endstadium vielleicht nur noch die Augen bewegen und sind schließlich vollständig eingeschlossen, "locked-in". Daher spricht man auch vom "Locked-In Syndrom" (LIS). Der britische Physiker Stephan Hawking (1942-2018) war hierfür ein bekanntes Beispiel.
Erste "Gehirnschreibmaschinen"
Niels Birbaumer gelang hier schon Ende der 1990er ein Durchbruch: Die Fachzeitschrift Nature veröffentlichte damals seine Entwicklung eines "Buchstabiergeräts für die Paralysierten". Mithilfe der Elektroenzephalographie (EEG) wurden Hirnströme von Patienten so ausgewertet, dass sie weiterhin mit der Außenwelt kommunizieren konnten.
Das Verfahren war gewissermaßen eine "Gehirnschreibmaschine". Geläufiger spricht man von Gehirn-Computer-Schnittstellen ("Brain-Computer-Interfaces", BCI).
Leider funktioniert das aber nicht so, dass ein Computer die zu sprechenden Wörter direkt im Gehirn erkennt. Das wäre sehr komfortabel und dann wohl echtes "Gedankenlesen".
Stattdessen lernen die Versuchspersonen, mitunter über Wochen und Monate hinweg, bestimmte Muster der Gehirnaktivität zu erzeugen. Dafür stellen sie sich beispielsweise Bewegungen – etwa linke Hand oder rechte Hand – vor. Die damit einhergehenden Reaktionen im motorischen Kortex können unter günstigen Umständen dann als ja/nein- oder links/rechts-Signal ausgewertet werden.
Dass das aber auch Jahrzehnte später sowohl für die Patienten als auch die technische Umsetzung eine Herausforderung ist, beschrieb ich erst vor Kurzem (Gehirn-Computer-Schnittstellen und der (Alb-)Traum vom Gedankenlesen). Bei dem konkreten Aufbau von Forschern an der Universitätsklinik Utrecht gelang es der Patientin, mithilfe der "Gehirnschreibmaschine" in etwa ein Zeichen pro Minute zu "tippen".
Zwar ließ sich mit der Verwendung eines Algorithmus zur Wortvorhersage, wie wir sie von Smartphones kennen, die Geschwindigkeit in etwa verdoppeln. Doch selbst dann muss man sich die Kommunikation mit der Außenwelt immer noch als mühsam vorstellen.
Zudem musste auch diese ALS-Patientin für diesen "Erfolg" monatelang üben. Mit ihrem älteren System, das mit einer Kamera Augenbewegungen aufzeichnet, war sie viel schneller. Das funktionierte aber nicht unter allen Lichtverhältnissen, beispielsweise in der prallen Sonne. Und was, wenn die Krankheit schließlich auch die Augen lähmt?
Relevante Forschung
Hier kann und muss man auch eine Lanze für die Forschung brechen, an der sich Wissenschaftler wie Niels Birbaumer beteiligen. Diese erzeugt nämlich nicht nur bunte Bildchen mit dem Hirnscanner, die die Fachzeitschriften und manchmal auch die Feuilletons füllen. Nein, solche Versuche haben große Auswirkungen auf die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten.
Aber auch hier gibt es, wie so oft, eine "Dual Use" Problematik: Was für die Patienten ein Notnagel ist, verunsichert andere Bürgerinnen und Bürger. So hatte man schon in den 1950ern bis 1970ern, in der Zeit des Kalten Kriegs, Angst vor Gedankenkontrolle durch die Regierung – oder den Feind.
Zwar war (und meiner Meinung nach: ist) das mit Blick auf die technischen Möglichkeiten Science-Fiction. Tatsache ist aber, dass beispielsweise der spanische Hirnforscher José M. R. Delgado (1915-2011) hierzu an renommierten US-Institutionen forschte. In der Öffentlichkeit verbreitete der "Hirforscher mit dem ferngesteuerten Stier" gar die Idee einer neurowissenschaftlich bedingten "psychozivilisierten Gesellschaft" als Utopie.
Jahrzehnte später sind bekanntermaßen Tech-Milliardäre wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg an Gehirnschnittstellen interessiert. Dass man hier echtem Gedankenlesen näher gekommen wäre, ist mir aber nicht bekannt.