Forschungsskandal: Deutsche Forschungsgemeinschaft und Niels Birbaumer schließen Vergleich

Seite 2: Gute wissenschaftliche Praxis

Neben Forschungsfragen und Utopien gibt es natürlich auch Standards für gute wissenschaftliche Praxis. Und mit denen ist der Tübinger Professor Birbaumer vor ein Paar Jahren in Konflikt geraten.

Konkret ging es um eine 2017 in der angesehenen Fachzeitschrift PLOS Biology erschienene Arbeit, in der Birbaumer der nächste große Durchbruch gelungen schien: Zum ersten Mal soll die "Gehirnschreibmaschine" bei einem Patienten gelungen sein, der vollständig eingeschlossen war ("Completely Locked-In State", CLIS).

Alles schien perfekt, die ohnehin schon beeindruckende Karriere des Professors mit noch einem Stern versehen. Wenn da nicht ein junger Informatiker und Neurowissenschaftler im eigenen Hause gewesen wäre, der sich die Daten genauer angeschaut hätte. Und darüber beharrlich kritische Fragen stellte.

Aus den kritischen Fragen wurde schließlich ein Forschungsskandal, über den Anfang 2019 die Medien berichteten (FAZ, Süddeutsche, Zeit…). Auch ich schrieb hier für Telepolis einen Artikel und wunderte mich darüber, dass kein Hirnforscher oder Neuropsychologe den Fall in der Öffentlichkeit kommentieren wollte, jedenfalls nicht namentlich.

Die Journalisten, die die komplexen statistischen Fragen natürlich nicht selbst beantworten konnten, mussten darum schließlich eine Statistikerin aus der freien Wirtschaft einschalten. Diese fand, ebenso wie später eine Kommission der Universität Tübingen und schließlich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die Birbaumers Forschung jahrelang finanziert hat, Fehler.

Harte Konsequenzen

Eine Pressemitteilung der Universität vom 6. Juni 2019 sprach dann auch wörtlich von "wissenschaftlichem Fehlverhalten". So würden Daten fehlen, seien von den Forschern Daten selektiv ausgewertet worden und fehlten auch weitere Informationen zum Nachvollziehen der Studie.

Etwas später, am 19. September 2019, berichtete die DFG ebenfalls über "wissenschaftliches Fehlverhalten". Birbaumer wurde von ihr für fünf Jahre von der Antragsstellung und Begutachtung von DFG-Projekten ausgeschlossen. Das Verhängen solcher Strafen ist in der Forschungswelt sehr ungewöhnlich.

Die strittige Arbeit in der Fachzeitschrift wurde erst am 25. April und 12. Dezember 2018 mit Korrekturen versehen. Am 16. Oktober 2019 folgte ein Warnhinweis. Am 16. Dezember des Jahres zogen die Herausgeber die Arbeit dann mit Verweisen auf die Untersuchungen der Universität Tübingen und der DFG vollständig zurück.

Der Ruf des Hirnforschers war damit stark beschädigt. Wiederholt wurde auch sein harsches Auftreten gegenüber den Medien und Untersuchungsgremien thematisiert. Birbaumer kritisierte seinerseits die Arbeit der Untersuchungsgremien und beharrte darauf, alle Vorwürfe zu widerlegen.

Gleichzeitig stellte er sich als große Hoffnung für die ALS-Patienten dar. Auf einer eigenen Website "Kommunikation für ALS: Falsche Anschuldigungen" heißt es, Birbaumer und dem Erstautor der Studie, Ujwal Chaudhary, sei Ungerechtigkeit widerfahren.

Rechtsstreit und Vergleich

Birbaumer wehrte sich schließlich auch gerichtlich, nämlich am Landgericht Bonn, wo die DFG – ein eingetragener Verein – ihren Sitz hat. Dort einigte man sich nun am gestrigen 5. April auf einen Vergleich: Die Institution schreibt, dass damit "eine frühere Entscheidung des Hauptausschusses der DFG gegen Birbaumer wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens in großen Teilen Bestand" hat.

Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Überraschenderweise gelang Birbaumer nämlich parallel zum Gerichtsverfahren ein wissenschaftlicher Erfolg: Wie Nature Communications erst am 23. März 2022 berichtete, hätten Chaudhary, Birbaumer und andere Wissenschaftler die Gehirnschreibmaschine nun bei einem vollständig eingeschlossenen Menschen umgesetzt.

Dafür waren dem ALS-Patienten Elektroden ins Gehirn implantiert worden. So kann man Signale besser aufzeichnen als mit einem störungsanfälligen EEG-System auf der Kopfhaut.

Die DFG wundert sich darüber, wie Birbaumer und manche Medien diese wissenschaftliche Veröffentlichung darstellen. In der Pressemitteilung vom 5. April heißt es1:

Die nun in nature communications veröffentlichte Studie Birbaumers wurde unmittelbar Gegenstand umfangreicher fachwissenschaftlicher wie auch öffentlicher medialer Berichterstattung und Kommentierung. In dieser wurde die neue Arbeit teilweise in direkten Bezug zu den gegen Birbaumer ausgesprochenen Maßnahmen gestellt und als "Rehabilitierung" gewertet.

Gegenüber einem biomedizinischen Online-Medium habe Birbaumer sogar gesagt, er habe damit den Fall gewonnen und die Maßnahmen gegen ihn müssten aufgehoben werden. Darauf reagiert die DFG, dass "diese Äußerung in mehrfacher Hinsicht nicht den Tatsachen entspricht".

Mediale Unterstützung

Unterstützung erhielt Birbaumer jedoch in der FAZ – und zwar in einem Kommentar, der sofort am 22. März veröffentlicht wurde, also am selben Tag wie die neue Studie. Darin heißt es, "Niels Birbaumer wurde zu unrecht verdächtigt. Seine neue Studie ist ein Meilenstein."

Differenzierter sieht das allerdings Zeit Online am 4. April, wo man den Fall noch einmal in seiner Gesamtheit Revue passieren ließ. Leider verbergen sich die Artikel hinter Bezahlschranken.

Tatsächlich werden hier unterschiedliche Fragen vermischt: Erstens, gab es bei der Studie in PLOS Biology aus dem Jahr 2017 wissenschaftliches Fehlverhalten? Zweitens, funktionieren "Gehirnschreibmaschinen" bei vollständig eingeschlossenen Patienten?

Und diese Vermischung ist ganz im Sinne Birbaumers: Die Kritik des Informatikers, den Kampf in den Medien und schließlich wissenschaftlichen Gremien 2019 hat er verloren. Auch mit dem Vergleich bleibt die DFG in diesem Sinne eindeutig – und dürfte daher auch die ursprüngliche Publikation zurückgezogen bleiben.

Entscheidend ist hierfür ein Absatz aus dem Vergleich, auf den sich die Institution und Birbaumer nun geeinigt haben2:

Zwischen der DFG und Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Birbaumer besteht dabei Einigkeit, dass das konkrete Verfahren der DFG wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens gegen Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Birbaumer auf Basis der Verfahrensordnung der DFG zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten ordnungsgemäß und entsprechend den Verfahrensvorschriften durchgeführt wurde.

Damit räumt auch Birbaumer ein, dass ihm, jedenfalls gemäß den DFG-Kriterien, Fehlverhalten nachgewiesen wurde. Der Erfolg in der wissenschaftlichen Frage nach der Möglichkeit solcher "Gehirnschreibmaschinen" ändert daran nichts.

Die DFG und wohl auch das Landgericht Bonn dürften sich freuen, dass damit der Rechtsstreit beigelegt ist. Denn auch Richterinnen und Richter sind nicht dafür ausgebildet, komplexe statistische Fachfragen zu beantworten. Juristisch bliebe dann ein langwieriger wie kostspieliger Streit zwischen Gutachten und Gegengutachten, der sich auch noch durch die Instanzen ziehen könnte.