Frankreich: Apathisches Wahlvolk, überschätzter Macron…

Seite 3: Le Pen und Zemmour - das Putin-Problem und die Kaufkraft

Nutznießerin könnte dabei schlussendlich die vor einigen Monaten vorschnell politisch abgeschriebene Marine Le Pen sein. Augenblicklich, Stand 05. April, erreicht die Chefin des rechtsextremen Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung") in Umfragen erstmals einen Wert von 48,5 Prozent zu erwartender Stimmen in einer Stichwahl zwischen ihr und Emmanuel Macron (51,5 Prozent).

Dadurch rückt ein möglicher Wahlsieg aus ihrer Sicht erstmals wirklich in greifbare Nähe, ohne gesichert zu sein. Im ersten Wahlgang würden derzeit Macron 26 und Le Pen 22 Prozent erhalten, sofern die Umfragen ein wirklichkeitsgetreues Bild vom voraussichtlichen Stimmverhalten zeichnen.

Vor fünf Jahren klaffte der Abstand zwischen Macron und Le Pen in der Stichwahl, die damals bereits zwischen den beiden ausgetragen wurde, mit 66 zu 34 Prozent viel weiter auseinander. Infolge ihres TV-Duells vom 03. Mai 2017, bei dem Marine Le Pen vor allem bei ökonomischen und sozialen Fragen sträflich unvorbereitet bis ahnungslos erschien, konnte ihr Wahlsieg damals quasi ausgeschlossen werden. Doch damals ist damals, und heute ist heute. Die rechtsextreme Politikerin hat seitdem viel gearbeitet.

Ferner schien seit dem Spätsommer 2021 der Aufstieg des rechtsextremen Ideologen und Ex-Journalisten sowie Buchautors Eric Zemmour – er zieh Marine Le Pen mangelnden ideologischen Tiefgangs, unzureichend gefestigter Überzeugungen, ja sträflicher Kompromisslerei – die Chefin des RN endgültig ins Hintertreffen zu befördern.

Zemmour begann sich ab August/September offen in der politischen Landschaft breitzumachen und kündigte am 30. November vorigen Jahres offiziell seine, allgemein erwartete, Präsidentschaftskandidatur an. Dadurch schien die extreme Rechte in zwei annähernd gleich große Hälften gespalten, Zemmour schien im Auf- und Le Pen im Abschwung.

Aber auch dies war… gestern. Durch seine ideologische Verschlossenheit, seine Humorlosigkeit, seine gar zu offen an den Tag gelegte Bewunderung für Wladimir Putin – als diese mit Kriegsausbruch definitiv inopportun wurde, schaffte es Marine Le Pen im Gegensatz zu ihm, sich von ihren eigenen früheren Positionen erklärter Putin-Unterstützung in den Augen der Öffentlichkeit frei zu schwimmen - und sein Desinteresse an sozialen Fragen war es Zemmour, dessen Kandidatur an Dynamik verlor.

Marine Le Pen gelang nicht nur ein erheblicher Wiederaufschwung in den Umfragen zu seinen Lasten, sondern zugleich verstand sie es, im Kontrast zu ihm als immer menschlicher, immer moderater, ja vergleichsweise ideologiefrei wahrgenommen zu werden. Ihr Parteifreund Wallerand de Saint-Just, früherer Schatzmeister der Partei unter ihrem alten Namen (vor 2018: Front National), bezeichnete Zemmour in diesem Zusammenhang bereits als "unseren Blitzableiter".

Die Rechte entdeckt die Verteilungsgerechtigkeit

Marine Le Pens Partei schaffte es, seit September 2021 "die Kaufkraft" – also Verteilungsgerechtigkeit - als ihr wichtigstes Thema erscheinen zu lassen, was für die extreme Rechte übrigens ein absolutes Novum darstellt. Denn bislang dominierten ausschließlich die Themen "Immigration" und "Sicherheit" sowohl die Selbstdarstellung der Partei als auch die in Umfragen erklärten Interessen ihrer Wählerschaft.

Erstmals rangiert auch bei der Letztgenannten im diesjährigen Wahlkampf das Kaufkraft-Thema an erster Stelle, vor den beiden anderen Themen, die bislang jedenfalls beim harten Kern der Rechtswählerschaft für ein geschlossenes Weltbild sorgten und die Wahrnehmung sozialer Problematiken tendenziell verdrängten. Zemmour und seine, in den letzten Wochen schrumpfende, Wählerschaft machten diese Mutation ihrerseits jedoch nicht mit.

Der RN verfügt schon seit längerem über ein relativ ausgeprägtes Sozialprogramm, jedenfalls im Diskurs – dessen konkrete Finanzierung beruht zum Großteil auf imaginären Vorstellungen, etwa der Annahme, durch Jagd auf "bürokratische Verschwendung und Sozialbetrug" sowie Einsparungen bei Ausländern allein ließen sich bei der Krankenversicherung gigantische Einsparungspotenziale in dutzendfacher Milliardenhöhe wie durch Magie erzielen -, während Zemmour daran lange Zeit schlicht kein Interesse hatte.

Später kopierte Zemmour, eher schlecht denn geschickt, die Vorschläge des RN zum Thema. Auch dessen Programm bleibt jedoch eines, das zentral auf Rassismus und nationalistischer Demagogie basiert.

Marine Le Pen schaffte es jedoch weitgehend, diese Aspekte erfolgreich zu überdecken, da Zemmour bereits den harten ideologischen Part in der Öffentlichkeit übernimmt. In den letzten Wochen kommt hinzu, dass Le Pen es zwar einerseits schaffte, ihre Darstellung und auch frühere Selbstdarstellerin als Putin-Unterstützerin abzustreifen, andererseits dem französischen Publikum auch deswegen einen "Schutz seiner Kaufkraft" verspricht, weil sie gegen Russland-Sanktionen eintritt – zumindest dann, wenn sie Frankreichs Ökonomie etwas kosten sollten.

Viktor Orban jedenfalls hat mit ebensolcher Doppelbödigkeit soeben wieder eine Wahl in Ungarn gewonnen.