Frankreich: "Nuit debout"-Proteste, eine neue Opposition?
Seite 2: Schafft die soziale Bewegung den Sprung in die Banlieues?
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Doch jenseits des Boulevard périphérique - der Ringbauautobahn, die um das 1860 definierte Pariser Stadtgebiet herum geht und das "eigentliche" Paris von den Vor- oder Trabantenstädten trennt - beginnt nochmals eine andere Welt. So sehen es jedenfalls viele Einwohnerinnen und Einwohner der Pariser Kernstadt, vor allem aus bürgerlichen Milieus. Umso wichtiger ist es, sich zu fragen, ob eine in Paris entstandene soziale Bewegung auch den Sprung in die darum herum gelegenen Banlieues schafft.
Von Anfang an war in Redebeiträgen auf der Pariser Place de la République immer wieder gefordert worden, auch in andere Städte und insbesondere in die Banlieues auszustrahlen. Aufgegriffen worden ist der Impuls inzwischen in über sechzig französischen Städten, wo mindestens in einer Nacht eine Platzbesetzung stattfand.
Im südwestfranzösischen Toulouse ist sie seit nunmehr einer Woche ebenfalls permanent, auf dem dortigen Kapitol-Platz nahmen bis zu 800 Menschen an Vollversammlungen statt. Selbst kleinere Städte wie Saint-Aubin-du-Cormier mit 3.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sind mittlerweile berührt, nach den Regionalmetropolen Marseille, Lyon oder Lille.
Es blieb die Frage nach dem Übergreifen auch auf die Banlieues, denn neben der geographischen Distanz kommt hier eine handfeste soziale Spaltung hinzu.
Am Mittwoch (13. April) wurde der Sprung dorthin unternommen. Am Vormittag besetzten erzürnte Eltern in Saint-Denis, der alten Königsstadt in der nördlichen Pariser Vorstadtzone, insgesamt 200 Schulen. Sie protestieren gegen Einsparungen in ihrem krisengeprägten Département, gegen zahllose Unterrichtsausfälle mangels Ersetzung fehlender Lehrkräfte, und allgemein die systematische Vernachlässigung des ärmsten Verwaltungsbezirks Frankreichs (ohne Überseegebiete). Am Spätnachmittag dann riefen sie zu einem öffentlichen Sit-in auf. 400 Menschen kamen zum Debattieren bei einer Vollversammlung unter freiem Himmel, was kein schlechter Anfang ist.
Anderswo hatte es bereits Anläufe zur Organisierung von Vollversammlungen in den Vorstädten gegeben, in Montreuil östlich von Paris seit dem Freitag voriger Woche. Diese Stadt befindet sich jedoch bereits voll in der Gentrifizierung. Andernorts bleibt es jedoch schwierig. Aus Noisy-les-Champs berichten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die bürgerliche Presse, es seien nur 30 bis 40 Menschen gekommen, und die linksliberale Zeitung Le Monde zitiert einen schwarzen Passanten:
Wen wollt Ihr denn repräsentieren, es sind überhaupt keine Afrikaner, Araber oder Asiaten unter Euch?
Die durch die Zeitung selbst publizierten oder im Internet kursierenden Bilder von dem Ereignis widerlegen diese Aussage zwar. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass viele Einwohnerinnen und Einwohner aus sozialen Unterklassen und/oder mit Migrationshintergrund - aufgrund bisheriger gesellschaftlicher Erfahrung - politischer Repräsentation eher grundsätzlich skeptisch gegenüber stehen. Bislang schlägt dieses Misstrauen in den Trabantenstädten zum Teil auch der Platzbesetzerbewegung entgegen.
In Paris hingegen ist es eher die Staatsmacht, die ihr zu schaffen macht. Seit Tagen häufen sich polizeiliche Provokationen, am Montag der abgelaufenen Woche schüttete die Bereitschaftspolizei CRS etwa einen Riesentopf mit Suppe aus der Essenausgabestelle - der "Kantine" - einfach in die Gosse.
Am Dienstagabend fiel auch die Straßenbeleuchtung auf dem und rund um den Platz zeitweilig völlig aus; das Pariser Rathaus behauptet allerdings, die Verdunkelung gehe auf eine Panne zurück. Die Staatsmacht möchte vor allem festere Aufbauen auf dem Platz wie die "Kantine", die Krankenstation oder die Lautsprecheranlage verhindern oder vertreiben. Der Parteichef der regierenden Sozialdemokratie Jean-Christophe Cambadélis erklärte, "um einen Rahmen zu wahren", brauche es "CRS debout", also wachende Bereitschaftspolizisten.
Die Besetzerinnen und Besetzer wollen dem widerstehen.