Frankreich in Wut: Macron hat sich verkalkuliert

Bild (2023): Gints Ivuskans /Shutterstock

Parlamentswahlen: Umfragen prophezeien eine tiefgreifende Veränderung. Statt gegen Le Pens Partei richtet sich die Blockade der Wähler nun gegen Macron und seine Verbündeten.

War die Wut auf Macron vor seiner Blitz-Entscheidung schon am Köcheln, so ist sie jetzt am Kochen. So lauten die Temperaturmeldungen zum aktuellen politischen Klima in Frankreich. Der Präsident hat sich mit seinem Entschluss, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, verkalkuliert, so lauten die nüchternen Analysen zur Lage.

Das Kalkül

Umfragen zur ersten Wahlrunde am kommenden Sonntag unterstützen diese Sicht. Das Kalkül des Präsidenten wird in der Medienöffentlichkeit wie folgt aufgeblättert: Die Uneinigkeit der Linken verhindert einen Wahlerfolg auf dieser Seite.

Was die radikale Rechte angeht, also die Parteien rechts von den bürgerlichen Republikanern, vor allem die Partei Le Pens, der Rassemblement national, und deren noch radikalere Verbündete, so kann Macrons Mitte auf eine große Ablehnung unter den Wählern bauen, wenn es ernst wird.

Die traditionelle republikanische Schranke gegen rechts

"Vote de barrage" heißt der französische Ausdruck dafür, auf Deutsch übersetzt: eine Stimmabgabe, die eine Schranke zieht, eine Sperre errichtet. Man wählt gegen Le Pen und die radikale Rechte.

Das geht offenbar so nicht auf. Statt zu einer "vote de barrage" gegen RN zu tendieren, neigen die befragten Wähler dazu, eine "vote de barrage" gegen die den Präsidenten stützenden Parteien (Ensemble pour la République) sowie gegen die Neue Volksfront der Linken zu errichten, kommentiert die Zeitung La Dépêche heute eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Odoxa.

Die "vote de barrage" wirke weniger gegen den RN als gegen die Mehrheit des Präsidenten und die Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire), schreibt die Zeitung. Die dafür eine Addition aufmacht, die Nicht-Abschreckung mit Zustimmung verrechnet:

Die Zahl der Franzosen, die sich wünschen, dass die RN an die Macht kommt (28 Prozent), ist ebenso hoch wie die Zahl derer, die sich nicht davor fürchten, ohne sie sich jedoch zu wünschen (29 Prozent). Wenn man die Letzteren zu den Ersteren addiert, ergibt die Umfrage 57 Prozent der Bürger, die die Aussicht, von der RN regiert zu werden, nicht abschreckt, sondern sogar zufrieden stellt. Nur 42 Prozent fürchten sich davor und wünschen sich den Sieg einer oder mehrerer anderer Parteien.

In einem Punkt ist sich die Mehrheit der Bürger einig: 56 Prozent sehen die RN als Siegerin der Parlamentswahlen, 24 Prozent die NFP und 18 Prozent die Parteien, die hinter dem Präsidenten stehen.

La Dépêche

Eine Umfrage von Ipsos, die vor zwei Tagen veröffentlicht wurde, hat andere Konturen, hier wird nicht mit der Linie der "vote de barrage" gearbeitet, zeichnet aber ein ähnlich schlechtes Bild für die bisherige Abstimmungsmehrheit für das präsidentielle Lager.

Keine absolute Mehrheit für Niemand

Derzeit vereinen demnach die Kandidaten der Rassemblement National und ihrer Verbündeten 35,5 Prozent der Wahlabsichten auf sich. Das linke Bündnis Nouveau Front Populaire würde auf 29,5 Prozent kommen, die Majorité présidentielle, also die Parteien, die den Präsidenten unterstützen, auf 19,5 Prozent.

Wie immer gilt, dass Umfragen mit Vorsicht zu behandeln sind. Für Wahlen in Frankreich gilt das besonders, weil über die genaue Mehrheit der Sitze oft erst im zweiten Wahlgang, in den Stichwahlen, am 07. Juli, entschieden wird.

Das wissen die französischen Bürgerinnen und Bürger, weswegen im ersten Wahlgang das Signal im Vordergrund stehen kann, wo man mit einer Stichwahl rechnet.

Macron in Erwartung einer Wahlniederlage

Am großen Bild wird sich jedoch nach bisheriger Einschätzung der Lage von Expertenseite nicht viel ändern: Macron erwartet eine Wahlniederlage.

Und er macht Fehler, wie ihm vorgehalten wird. So warnt er in einem offenen Brief, mit dem er sich in den Wahlkampf der Parteien einmischt, vor einem möglichen Bürgerkrieg.

Verantwortlich dafür macht er die Partei Le Pens, den Rassemblement national, und Mélenchons Partei La France insoumise, sie würden in seinen Augen falsch auf die Lage in Frankreich antworten, "indem sie die Konfliktualität und den Bürgerkrieg verstärken".

Wie man einer Radikalisierung zuarbeitet

Damit, so wird ihm vorgehalten, desavouiert er das gesamte linke Bündnis, also auch die moderaten Linken des PS und die Grünen, und ordnet sie den Extremisten zu. Ein billiges Täuschungsmanöver, wie es auch die SZ in Deutschland so sieht : "Er greift die Linken mit den Parolen aus dem Repertoire der extremen Rechten an", kommentierte Oliver Meier in der Printausgabe am Montag.

Bürgerkrieg in Frankreich heißt brennende Vorstädte und gewalttätige Krawalle in Wohnvierteln der Städte mit hohem Migrantenanteil. La France insoumise hatte Erfolg bei den Europawahlen, weil man sich auf die Seite der Einwanderer stellte. Das hat angesichts der hitzigen Debatten über den Krieg im Gazastreifen Implikationen bei Diskussionen über die gegenwärtige Ausweitung des Antisemitismus und damit verbundene Gewalttaten.

Und das ist damit keine kleine Konflikt- und Risslinie innerhalb der linken Neuen Volksfront. Setzt Macron darauf, die Risse zu vertiefen? Er kalkulierte nicht damit, dass es zu einem solchen Bündnis kommt. Nun will er, indem er Mélenchon ins Zentrum stellt, das Bündnis für Wähler außerhalb des "republikanischen Konsens" platzieren in der Hoffnung, ihnen damit Wählerstimmen zu entziehen.

Das wird seinem Parteienbündnis nicht viel mehr Stimmen eintragen, ist aber, was das politische Klima angeht, ein weiteres riskantes Manöver. Es schwächt und desavouiert die linke Mitte und "alles in einen Topf werfen" bringt die Gewerkschaften auf, die in Frankreich mächtig sind. Es profitieren die Gegner von rechts außen.

Abstimmung gegen Pariser Elite

Die Wut auf Macron ist leicht zu erklären, er steht für eine Elite, die von Paris aus eine Politik macht, die keine Rücksichten auf die Lebensverhältnisse an der Peripherie, im ländlichen Raum, in den Schichten der Gesellschaft, der bange auf das Monatsende schauen. Das war die Parole der Gelbwesten. Macron hat sie in seiner Jupiter-Eitelkeit ignoriert. Jetzt kommt die Reaktion der Wähler, wie das politisch weitergeht ist offen.

Eine absolute Mehrheit für das Rassemblement national zeichnet sich nicht ab, der Streit darüber, wer die Regierung führen wird, wird wahrscheinlich noch den ganzen Sommer über dauern. Und er ist jetzt schon heiß, turbulent und gehässig.