Frankreich ist nicht Amerika
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Warum Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl deutlicher gewinnen wird, als es viele glauben. Ein Kommentar
Die Tragik ist in die Geschichte zurückgekehrt.
Emmanuel Macron
Das Ende des Monats zählt für die Franzosen mehr als das Ende der Welt.
Frédéric Dhabi, Direktor des französischen Meinungsforschungsinstitut ifop
Die Franzosen stehen vor einer historischen Abstimmung zwischen zwei radikal entgegengesetzten politischen Projekten und zwischen zwei völlig gegensätzlichen Weltanschauungen. Es geht um einen Zweikampf von Fortschritt gegen Reaktion, von Rationalismus gegen Populismus, von Globalisierung gegen Nationalismus. Auch dieses Mal ist ein politisches Erdbeben auszuschließen.
Die Bedeutung Frankreichs wird systematisch unterschätzt
Immer noch wird die Bedeutung der politischen Geschehnisse in unserem Nachbarland in Deutschland systematisch unterschätzt. So findet auch die jetzige Präsidentschaftswahl in den deutschen Medien und im öffentlichen Bewusstsein eigentlich erst in den letzten zwei bis drei Wochen statt. Eine kolossale Unterbewertung gegenüber der Aufmerksamkeit, die innenpolitischen Ereignissen zum Beispiel in den USA zuteil wird.
Vor allem der Alltag des Politischen in Frankreich findet in deutschen Medien eigentlich gar nicht statt. Wie viele von 1.000 zufällig befragten Deutschen könnten schon die Namen französischer Minister aus dem Gedächtnis nennen? Man übersieht dabei die tatsächliche Bedeutung unseres französischen Nachbarn, man übersieht zudem die enge Kooperation Frankreichs mit Deutschland nicht nur in Fragen der Europapolitik, sondern auch im Außenpolitischen.
Vielleicht wäre es, um ein Beispiel zu nennen, in der Frage der Ukraine-Krise doch auch für die deutsche innenpolitische Debatte interessanter, mal zu erfahren, dass Frankreich auch keine sogenannten "schweren Waffen" in die Ukraine liefert, als in der Tagesschau den neuesten Unions-Hinterbänkler zu zitieren, der Waffenlieferungen aus DDR-Beständen durch Litauen oder Lettland zum Maßstab für deutsche Außenpolitik erklärt. Frankreich ist zusammen mit Deutschland wichtigste Staat der EU.
Außerhalb Europas weiß man das auch und versucht daher, dem eigenen Publikum die Bedeutung der heutigen Wahl zu vermitteln – wie dieses hier zufällig ausgewählte Beispiel aus dem indischen Fernsehen anschaulich vor Augen führt. Man würde sich wünschen, im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehprogramm gebe es derartige nüchterne und zugleich unterhaltsam aufbereitete Aufklärung.
Le Pens Sieg wäre eine politische und kulturelle Katastrophe
Denn keine Frage: Ein Wahlsieg von Marine Le Pen wäre für Frankreich, aber vor allem für Europa, eine politische und kulturelle Katastrophe. Insofern ist die Nervosität in den Hauptstädten und europäischen Medien ebenso verständlich, wie die eher rührend und hilflos wirkenden Versuche, einiger Kollegen von Emmanuel Macron, diesem in den letzten Tagen und Stunden des Wahlkampfes unter die Arme zu greifen.
Aber wie schon 2017 geht Emmanuel Macron als Favorit in das Rennen, und es deutet alles darauf hin, dass er es schaffen wird, eine zweite Amtszeit zu gewinnen. Das ist seit Chirac keinem französischen Präsidenten gelungen und davor nur Mitterrand und De Gaulle.
Macrons Wahlergebnisse sind besser als die aller Vorgänger
Für diese Einschätzung sprechen mehrere einfache Gründe.
Da sind zunächst einmal die objektiven Zahlen: Im ersten Wahlgang lag Macron klar vor Le Pen, weit deutlicher, als es die Umfragen zuvor behauptet hatten. Hinzu kam, dass Macron im diesjährigen ersten Wahlgang mehr Stimmen bekommen hatte, als in dem von 2017 (27,8 Prozent gegenüber 24,0 Prozent) und einen deutlicheren Vorsprung vor der zweitplatzierten Rechtsextremistin hatte (4,6 Prozent statt 3,7 Prozent). Ein Novum gegenüber jeder vorhergehenden Präsidentschaftswahl der V. Republik, in der amtierende Präsidenten, auch wenn sie wiedergewählt wurden, schlechter abschnitten als bei ihrer Wahl ins Amt.
Diesen Vorsprung wird Macron heute ausbauen. Er kann dabei mit den Stimmen der Wähler der meisten kleineren Parteien rechnen. Währen Le Pen nur auf die Stimmen des Lagers des zweiten Rechtsextremen, Eric Zemmour, zählen kann, sowie auf einen gewissen Anteil derjenigen Hälfte aus dem Lager des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, die eine fundamentalistische Anti-Establishment-Position einnehmen und Macron daher für unwählbar halten.
Nicht wenige dieser Gruppe halten allerdings Le Pen für mindestens genauso unwählbar und werden im zweiten Wahlgang zu Hause bleiben. Bei der anderen Hälfte der Mélenchon-Wähler handelt es sich dagegen um klar auf der Linken positionierte, aber pragmatisch gesonnenere und republikanisch ausgerichtete Wähler. Ihnen ist Macron zu "neoliberal" und "globalistisch", aber im Vergleich zu Le Pen die eindeutig bessere Wahl.
Die Stichwahl vor fünf Jahren hatte Macron mit einem Vorsprung von über 30 Prozent deutlich gewonnen. Diesmal wird es wohl weniger klar sein, aber klarer als viele glauben.
Der einzige echte Unsicherheitsfaktor bleibt heute die Wahlbeteiligung. Je höher, desto besser für Macron.
Ukraine und "Le Pens Bankier"
Hinzu kommen Sachthemen. Die Wahl 2017 war de facto auch eine Abstimmung über Frankreichs Europapolitik und die Möglichkeit eines Frexit. Es gibt in Frankreich seit jeher links wie rechts ein starkes EU-skeptisches Lager. Marine Le Pen hatte sich seinerzeit sehr klar antieuropäisch positioniert und auf die nationalistische Karte gesetzt.
Dies tut sie jetzt auch diesmal wieder, jedoch ohne mit einem Austritt aus der EU zu drohen. Klar ist: Im Fall eines Wahlsiegs würde sie sich wie die Ungarn und wie die Polen gegen die EU stellen und Brüssel durch ständige Nadelstiche provozieren. Auch heute macht Le Pen kein Geheimnis daraus, dass sie versuchen wird, die Staatengemeinschaft zu sabotieren.
Aber seit 2017 ist Europa nicht der entscheidende Faktor. Damit ist dieses Thema vom Tisch, was Macron zwar gewisse Einbußen an Wählermobilisierung bringen wird. Demgegenüber gibt es allerdings jenseits der bekannten innenpolitischen Themen – Inflation, Wachstumseinbußen, die grundsätzliche Neigung der Franzosen zu protektionistischer Politik, die gewachsene Spaltung der Gesellschaft in Stadt und Land, Globalisierungsgewinner und -verlierer, in "anywheres" und "somewheres" – mit dem Ukraine Krieg ein neues außenpolitisches Thema.
Dieses ist für Marine Le Pen noch unangenehmer als das EU-Sujet. Sehr viele Franzosen sympathisieren nämlich mit der Ukraine; laut aktueller Umfragen ist die Ukraine-Politik für etwa 30 Prozent der Franzosen ein entscheidender Grund ihrer Wahlausrichtung.
Hier schadet ihre offene Nähe zu Wladimir Putin der rechtsextremen Kandidatin erheblich. "Wenn Sie Putin anrufen, sprechen Sie mit Ihrem Bankier" – diese bissige Bemerkung war die einzige echte Provokation, zu der sich der sehr diszipliniert agierende Emmanuel Macron im Fernsehduell am Mittwoch durchrang. Der Vorwurf saß.