Frankreich vor politischer Zäsur: Rechte Schockwelle geht durch Europa

Wahldiagramm Frankreich mit Schatten auf der EU-Flagge

Bilder: Tennessee Witney, photocosmos1, Victor Velter / Shutterstock.com

Frankreich ist Deutschland ist Europa: Die Rechten gewinnen überall an Macht. Linke und Bürgerliche haben ihren Anteil daran. Ein Telepolis-Leitartikel.

In einer historischen Wahl hat die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen die erste Runde der französischen Parlamentswahlen erwartungsgemäß klar gewonnen.

Ein politischer Wendepunkt

Nach Angaben des französischen Innenministeriums erreichte der RN 33,15 Prozent der Stimmen und lag damit vor dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) mit 27,99 Prozent und dem Bündnis Ensemble von Präsident Emmanuel Macron, das mit 20,83 Prozent auf einen enttäuschenden dritten Platz abrutschte.

Die hohe Wahlbeteiligung von 66,71 Prozent deutet auf einen politischen Wendepunkt hin: Die RN könnte die Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erringen.

Allerdings wird sie die für eine absolute Mehrheit erforderlichen 289 Sitze wahrscheinlich nicht erreichen. Dies könnte Frankreich in eine Pattsituation bringen und zu weiterer politischer Unsicherheit führen.

Prognosen gehen davon aus, dass den RN zwischen 230 und 280 Sitze in der 577 Sitze zählenden Assemblée Nationale erringen könnte – ein bemerkenswerter Zuwachs im Vergleich zu den derzeit 88 Sitzen. Die linke Volksfront (NFP) dürfte zwischen 125 und 165 Sitze erringen, während das Ensemble zwischen 70 und 100 Sitze anstrebt.

Wird es einen "Cordon sanitaire" geben?

Die Wahl, zu der Macron nach der Niederlage seiner Partei gegen den RN bei den Europawahlen aufgerufen hatte, könnte ihn dazu zwingen, die verbleibenden drei Jahre seiner Amtszeit in einer ungewöhnlichen Partnerschaft mit einem Premierminister zu verbringen, der einer Oppositionspartei angehört.

In Henin Beaumont, wo die Wahlparty des RN stattfand, brach Jubel aus, als die Ergebnisse bekannt wurden. Marine Le Pen betonte jedoch, dass die Abstimmung am kommenden Sonntag entscheidend sein werden.

Jordan Bardella, der 28-jährige Parteichef der RN, der als Premierminister gehandelt wird, unterstützte diese Botschaft. Die bevorstehende Wahl sei die wichtigste in der Geschichte der Fünften Republik.

Eine Woche lang wird nun politisch verhandelt, denn die Parteien der Mitte und der Linken müssen entscheiden, ob sie sich in einzelnen Wahlkreisen zurückziehen, um eine RN-Mehrheit zu verhindern.

Diese als "Cordon sanitaire" bekannte Praxis wurde in der Vergangenheit angewandt, um den RN, der früher als Front National bekannt war, von der Macht fernzuhalten.

Jean-Luc Mélenchon, Chef der größten Partei innerhalb der Nouveau Front Populaire (NFP), rief dazu auf, dem RN keine Stimme mehr zu geben und kündigte an, dass alle NFP-Kandidaten, die im ersten Wahlgang auf dem dritten Platz landeten, zurücktreten würden.

Die Parteichefin der Grünen, Marine Tondelier, appellierte persönlich an Macron, in einigen Wahlkreisen zurückzutreten, um eine RN-Mehrheit zu verhindern.

Macrons Verbündete riefen ihre Anhänger auf, gegen die RN zu stimmen, warnten jedoch davor, ihre Stimmen dem radikalen Mélenchon zu geben.

Ähnlich äußerten sich Macrons Protegé und amtierender Premierminister Gabriel Attal und der ehemalige Premierminister Eduard Philippe.

Ob taktisches Wählen die RN-Mehrheit verhindern kann, bleibt abzuwarten. Bei den Wahlen am Sonntag gewann der RN Unterstützung in Gebieten, die bisher als undenkbar galten.

Ein länderübergreifender Großtrend

In einem seit 1962 von den Kommunisten gehaltenen Wahlkreis im industriellen Kernland des Nordens unterlag der Kommunist Fabien Roussel bereits im ersten Wahlgang einem politisch unerfahrenen RN-Kandidaten. Roussell ist nicht irgendwer, sondern Nationalsekretär der Kommunistischen Partei.

Der erste Wahlgang in Frankreich zeigt: Nicht nur die bürgerliche Mitte der Fünften Republik steckt in einer existenziellen Krise. Auch die Linke verliert zunehmend an Zustimmung.

Dieser Trend ist länderübergreifend. In Deutschland verschwinden die Neosozialisten, die sich selbstherrlich den Namen "Die Linke" gegeben haben, von der Bildfläche. Das neu gegründete BSW versucht, sich in der Parteienlandschaft zu positionieren, ohne die Fehler der linken Selbstisolierung zu wiederholen.

Das europäische Projekt verändert sich

Dass diese Entwicklung in Deutschland und Frankreich gleichermaßen zu beobachten ist, zeigt ihre Dimension auf. Die Achse Berlin-Paris war von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle über Helmut Kohl und François Mitterrand ein stabilisierender Anker des fehlerbehafteten, aber zukunftsweisenden europäischen Projekts.

Dass nun die Alternative für Deutschland und der Rassemblement national in die Nähe regierungsfähiger Mehrheiten rücken, zeigt, wie sich das europäische Projekt verändert. Es ist kein Zufall, dass der Ungar Viktor Orbán gerade ein neues Rechtsbündnis ins Leben gerufen hat.

Will die europäische Linke verhindern, dass ganz Europa nach rechts driftet, muss sie aus eigener Kraft einen Neuanfang schaffen. Raus aus der politischen Blase, in der sie sich in den Jahren des bequemen bürgerlichen Parlamentarismus eingerichtet hat. In der sie sich selbst mit Parlamentsposten versorgt hat. In der sie ihr nahestehende Akteure aus taktischen Gründen in Versorgungspositionen gebracht hat.

Es ist kein Populismus, sich um die Sorgen der Menschen zu kümmern

Der Stärke der Rechten steht immer eine Schwäche der Linken gegenüber. Das ist kein Zufall. In Deutschland sind AfD-Politiker in Gegenden und Wahlkreisen präsent, in denen sich noch nie ein linker oder bürgerlicher Politiker blicken ließ.

Es ist kein Populismus, sich um die Sorgen der Menschen zu kümmern. Lange Zeit galt der Politiker als Diener des Volkes, von dem er sein Mandat erhielt. Die linken Kräfte in Europa, aber auch die bürgerliche Mitte haben diese Vorstellung und das Gespür für die Sorgen der Menschen weitgehend verloren. Das zeigt sich, wie zuvor erwähnt, in der Präsenz vor Ort.

Aber auch in der Glaubwürdigkeit. Absurderweise hatte selbst ein politischer Karrierist wie Gerhard Schröder mehr Gespür für die Sorgen der Menschen. Aber welcher aktuelle deutsche Politiker – oder Vertreter des Macron-Lagers – kann sich wie er an einen Biertisch setzen und mit den Menschen auf Augenhöhe reden?

Je weiter man diesen Vergleich zeitlich zieht, desto größer wird der Widerspruch. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Winston Churchill, Charles de Gaulle und Harry Truman, die den Westen führen. Heute sitzen Rishi Sunak und Emmanuel Macron auf solchen Posten und Trump hat gute Chancen, der nächste US-Präsident zu werden.

Selbstgefällige Akteure: Annalena Baerbock und Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Stattdessen haben wir in Deutschland selbstgefällige Akteure wie Annalena Baerbock, die, während sich die Menschen in Deutschland Sorgen um Inflation und Energieversorgung machen, vollmundig verkündet, "wir" seien bereit, die Kosten des Krieges in der Ukraine zu tragen.

Stattdessen haben wir Politikerinnen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die, während sich die Menschen in Deutschland Sorgen um eine militärische Eskalation bis hin zu einem nuklearen Schlagabtausch mit Russland machen, sagen, diese Diskussion dürfe in der Öffentlichkeit nicht geführt werden.

Die Entfremdung der etablierten Politik

Die Entfremdung der etablierten Politik von den Menschen ist einer der zentralen Gründe, warum rechte Kräfte jetzt Zulauf bekommen. Es sind nicht ihre Probleme, die die Menschen überzeugen. Es ist das Versagen derer, die über Jahre und Jahrzehnte das politische Angebot gerade in Deutschland oder Frankreich bestimmt haben. Die sich von der Idee des bürgerlichen Parlamentarismus entfernt haben und der Illusion verfallen sind, das Volk habe zu tun, was sie sagen; sie als Souverän, das Volk habe zu folgen.

Macrons Entscheidung, vorgezogene Neuwahlen auszurufen – die ersten seit 1997 – überraschte das Land und selbst seine engsten Verbündeten. Es eine Geste der Verzweiflung, das Ruder noch einmal herumzureißen. Die Wahl fand nur drei Wochen nach der schweren Niederlage von Macrons Renaissance-Partei gegen den RN bei den Europawahlen statt.

Ein Regierungsbündnis ohne klare Mehrheit könnte zu einer Finanz- und Verfassungskrise führen. Der RN hat teure Versprechungen gemacht, von der Rücknahme von Macrons Rentenreformen bis hin zur Senkung der Steuern auf Benzin, Gas und Strom, zu einer Zeit, in der Frankreichs Haushalt von Brüssel drastisch gekürzt werden könnte.

In einer kurzen Erklärung am Sonntagabend sagte Macron, die hohe Wahlbeteiligung zeige den Wunsch der französischen Wähler, die politische Situation zu klären und forderte seine Anhänger auf, sich für den zweiten Wahlgang zu sammeln.

Frankreichs Entscheidung steht unmittelbar bevor. Die Stichwahl wird zeigen, ob der RN eine Mehrheit erhält und welche politischen Koalitionen sich daraus ergeben. Sie werden über die Grenzen Frankreichs hinaus zu spüren sein.