Freispruch für den Schamanen
... und eine Leseempfehlung für Frau Anita
Liebe Leser, der folgende Text ist einem fiebrigen Vormittag geschuldet, an dem ich vor dem Fernseher dahingesiecht bin. Was gibt es da Schöneres, als sich via Eso-TV, dem Sender für alle magischen Belange, seine Chakren mal ordentlich durchputzen zu lassen? Ich verbürge mich übrigens dafür, dass die schamanischen Wortlaute nicht von mir erfunden, sondern genau so über den Äther geflimmert sind.
Matthias ist ausgebildeter Schamane. Wo und wie genau er diese Ausbildung absolviert hat, verrät er nicht, das ist wohl schamanisches Geheimwissen. Er gibt aber Einsicht in seine Spezialität, den Chakra-Ausgleich, also die Überprüfung und Reinigung der Chakren. Wobei Matthias anders als andere Schamanen gleich 10 (statt sonst 7) Chakren in Angriff nimmt, unter anderem deswegen, da er, wie er erklärt, Sexual- und Sakral-Chakra voneinander trennt, weil "für mich der Eingang definitiv auch aus dem Solarplexus- oder Sexual-Chakra gezogen werden kann zum Sakral-Chakra, ich aber der Meinung bin, wenn das eine blockiert ist und das andere nicht, dann findet man eventuell die Ablösung nicht, und das wäre unschön und deswegen halte ich das für sehr unsinnvoll".
Das klingt einleuchtend. Da investiert man gerne die 4,50 Franken pro Minute für eine dermaßen kompetente Telefonberatung. Muss sich jedenfalls Frau Anita gedacht haben, und Matthias legt ihr gleich mal die Karten. Aber irgendwas läuft nicht ganz rund, Matthias muss zweimal mischen. Der Grund: "Irgendwas stimmt in der Frequenz nicht." Nichts, was ein Schamane nicht beheben könnte. "Ich muss mal grade in unsere Energieverbindung eintauchen und etwas verändern – zum Positiven. Du hast einen Schutz in dir gegenüber fremden Energien. Wenn du mir die Erlaubnis gibst, die Tür zu öffnen, dann darf ich eintreten", erklärt Matthias, und Frau Anita haucht ergriffen die Erlaubnis. Matthias wedelt mit den Händen – jawoll, Frequenz gereinigt. Jetzt klappt es auch mit dem Kartenlegen.
"Ich habe gespürt, dass wir nicht in einer Frequenz schwingen, jetzt hab ich ein gutes Gefühl, es fühlt sich sehr stimmig für mich an. Manchmal muss man dann einfach bestimmte Energielinien verbinden. Hast du den Schutz bewusst gezogen?" Hat sie nicht. Frau Anita würde doch niemals einen Schutzwall gegen so seriöse Lebensberater wie Matthias aufbauen, wie käme sie dazu!
Jetzt werden die Karten gelesen: "Auf dem dritten Auge hast du unheimlich viele Energieverluste, da solltest du auf jeden Fall gleich die Übung machen, die ich dir gebe, da ziehen wir einen Engel drauf. Das machen wir sofort, dann ist das erledigt. Dann gebe ich dir auch eine Affirmation, das ist ganz wichtig." Kaum ist der Engel aus dem Kartenset gezogen, sucht Matthias die dazugehörige Affirmation im Buch, denn Matthias kann natürlich nicht alle zu den einzelnen Engeln gehörenden Affirmationen auswendig ("das ist ja klar, ne").
Dann erklärt er, dass es bei Frau Anita um fehlendes Vertrauen in Gott und die Welt gehe, sie müsse daher dringend Vertrauensübungen absolvieren. Dass Frau Anita ein geradezu säuglingshaftes Urvertrauen in ihn, den Schamanen, zu haben scheint, beirrt ihn dabei keineswegs.
Aber das ist noch längst nicht alles. Matthias rät Frau Anita, sie solle sich mit ihrem eigenen Energiefeld wieder besser beschäftigen. Dazu will er ihr noch einen kleinen Anschub geben. Nachdem Frau Anita ihm "rituell" die Erlaubnis dazu erteilt hat, wedelt Matthias mit seiner Handfläche vor sich in der Luft herum. Weit kommt er allerdings nicht, denn, oha, jetzt bemerkt er, da ist "irgendwas Dunkles drin", nämlich in der Frau Anita. "Schatzi, auch bei dir habe ich jetzt einen dunklen Fluss, du hast aber eh einige Chakren blockiert."
Er will in Details gehen, kriegt aber beim ersten Mal die Reihenfolge der Chakren nicht richtig her. Er war wohl nicht der Musterschüler in der Schamanenausbildung. Aber was soll’s, Reihenfolge hin oder her, Matthias lässt es beim zweiten Versuch einfach sprudeln: Der Sarg auf dem Hals-Chakra! Auf dem Solarplexus-Chakra der Berg! Und auf dem Herzen die falsche Frequenz! Außerdem ist da noch die Schlange drauf! Und Achtung, auf dem Sexual-Chakra ist eine männliche Fremdenergie, die Frau Anita blockiert. Auf dem Sakral-Chakra liegt die dunkle Seite der Wolken! Auf dem Mutterthema wieder eine falsche Frequenz, und auf dem Vaterthema ist die Isolation. Außerdem nimmt der Schamane die Fremdenergie eines Ex-Partners wahr. Da liegt also gar manches im Argen bei der guten Frau Anita, und sie hat es ja auch schon geahnt. "Könnte das mein Ehemann sein?", fragt sie bang.
Aber für solche spezifischen Themen gibt unser Schamane, quasi der Hausarzt unter den Eso-Docs, gerne an Spezialisten ab, zu denen die Anruferin praktischerweise gleich direkt weiterverbunden werden kann. In diesem Fall an Kartenlegerin und Medium Beatrice, die kann nämlich negative Energien "wegnehmen". Frau Anita scheint sich gar nicht darüber zu wundern, dass es der Anruferin vor ihr genau gleich gegangen ist: Nach längerer Beratung mit dem Schamanen wurde auch diese an eine Spezialistin weitergeleitet. Bis ihr Matthias seine obligatorische Abschiedsformel "Dann wünsche ich dir Gottes reichen Segen, Gottes reichen Schutz und mögen alle deine Wünsche in Erfüllung gehen" zuruft, hängt sie schon seit über 6 Minuten bei ihm in der Linie und wird nun bei Frau Beatrice weiterbehandelt – knappe 30 Franken hat der Spaß also bisher gekostet, und er ist noch nicht vorbei.
Wenn Blockaden-Expertin Beatrice ihre wundersame Arbeit an Frau Anita vollbracht haben wird, soll Anita sich erneut bei Matthias melden, um von ihm abschließend "behandelt" zu werden. Anita ist dankbar und freut sich: "Super! Danke! Tschüssli!"
Mir wird schlagartig klar, warum Frau Anita mit ihren Blockaden nicht zum Psychologen geht. Wer sagt schon zu seinem Therapeuten "tschüssli"?
Als Frau Anita "abgehängt" ist, mahnt Schamane Matthias die Zuschauer, in den verbleibenden 15 Minuten noch schnell anzurufen. "Wir können bestimmt noch drei Chakra-Ausgleiche locker machen, vielleicht sogar fünf."
Es meldet sich "Schacktia", offenbar Stammanruferin bei unserem Schamanen. Matthias begrüßt sie vertraut und reinigt ihr umgehend das Sexual-Chakra. Sie ist entzückt, als er ihr anbietet, einen Engel draufzulegen "Jaaa, gerne!" Ob so vieler Intimität erscheint es mir angebracht, mich zurückzuziehen und die beiden ihrem Energieaustausch zu überlassen.
"Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht"
Eigentlich ein toller Job, Schamane. Keinerlei Verantwortung, man kann seine Anruferinnen wie im tiefsten Schwulen-Klischee mit "Schatzi" und "Mausi" ansprechen und sie mit irgendwelchen Allgemeinplätzen über Verlustängste und dunkle Energien abspeisen, nicht einmal seine paar Affirmationen oder Chakren muss man auswendig können, und den Preis von 4,50 Franken in der Minute (das ist ein Stundensatz von 270 Franken!) finden auch alle okay. Da fragt man sich doch, warum Leute überhaupt noch studieren.
Ich verurteile Matthias nicht. Er hat offensichtlich einen Job gefunden, der ihm gerecht wird. Aber Frau Anita, mit Ihnen bin ich nicht im Reinen. Wenn Sie das lesen: Ihnen gegenüber empfinde ich Wut. Sie meinen es sicher gut und wollen Niemandem Böses. Aber mit Ihren Anrufen bei Eso-TV und Konsorten stützen Sie eine Welt, die es verdient, im Orkus zu versinken. Sie halten Dunkles im Gange, Frau Anita, nämlich die Verfinsterung des Geistes durch Scharlatane. Sie mögen das für harmlos oder sogar für richtig und wichtig halten, und ganz bestimmt sind Sie davon überzeugt, dass Ihnen Matthias wirklich geholfen hat. Aber wenn Sie ernsthaft glauben, dass Ihnen jemand per Telefon Ihre sexuellen Verspannungen und die Konflikte mit Ihrem Mann, Ihren Kindern oder der bösen Nachbarin durch das Legen irgendwelcher beliebiger Bildkarten lösen kann, dann sind Sie von den wirren Träumen umfangen, die der Schlaf der Vernunft gebiert.
"Was hat die gegen Träume", denken Sie jetzt und können gar nicht verstehen, wie ich Ihnen so etwas Schönes wegnehmen will. Oh, Sie hätten Günter Eich lesen sollen, statt Matthias anzurufen, die 6 Minuten wären besser investiert gewesen, und Geld gespart hätten Sie obendrein. Der schreibt nämlich: "Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht." Nein, Günter Eich ist kein Miesmacher, er ist ein Mutmacher, aber nicht wie Matthias der schamlose Schamanus, sondern wie einer, dem etwas wirklich wichtig ist.
Sie werden Günter Eich selbstverständlich nicht lesen, wie Sie selbstverständlich auch diesen Text nicht lesen werden, nicht, weil Sie wenig lesen, Sie lesen wahrscheinlich sogar ziemlich viel, alle Bände von Shades of Grey haben Sie verschlungen, und Heimatromane kaufen Sie sich am Kiosk gleich im Multipack. Sie halten sich für ziemlich aufgeschlossen und alternativ, für naturverbunden und tierlieb. Ihre Katze hat auch nichts zu klagen, außer, dass sie zu fett ist, aber das liegt nur am Fell, nicht wahr, das ist eben ziemlich dick. Sie werden aus Ihrem mühsam konstruierten Wohlfühlkäfig nicht mehr ausbrechen, Sie werden höchstens eine Familienaufstellung nach Hellinger machen, aber ansonsten alles beibehalten, die Reisen in den Süden, obwohl oder eigentlich gerade weil Sie und Erwin sich längst nichts mehr zu sagen haben, die Kaffeekränzchen mit Irmgard und Cordula, bei denen Sie vielleicht doch noch mal ein anderes Kuchenrezept ausprobieren, aber Sie sind auf Schiene, da passiert jetzt nicht mehr groß viel.
Nur, wenn Sie wieder mal den dumpfen Druck spüren, der Sie ab und zu befällt, dieses seltsame Unbehagen, dass vielleicht doch nicht alles so rund läuft, dann werden Sie zum Telefonhörer greifen und vielleicht nicht den Schamanen Matthias, sondern die Hellseherin Helga anrufen, die Ihnen die aufgewühlte Seele wieder glattstreicht. Ist doch nichts dabei, oder?
Lesen Sie Günter Eich, Frau Anita, der sagt es Ihnen: Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt! Und dass es näher kommt, Frau Anita – ja, das liegt unter anderem an Ihnen.