Frieden muss gestiftet werden

Seite 3: Kipppunkte ins heutige Weltenchaos

Grenzen in Europa wurden versetzt. Die USA praktizierten im von Serbien und damit vom russischen Einfluss abgetrennten Kosovo die moderne Form der Annexion – ein vollkommen abhängiges Protektorat, in dem Camp Bondsteel, der weltweit größte ausländische US-Militärstützpunkt, sofort nach Kriegsende ungefragt errichtet wurde.

In Belgrad sagten die Experten, ohne Hilfe aus dem Ausland werde es 80 Jahre dauern, bis die Schäden in Serbien behoben sind. Dort erschwert bis heute die durch den Krieg ausgelöste Tragödie des Humanitären den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, vielmehr vollzieht sich ein von faschistischen Zügen geprägter Zerfallsprozess.

Im einstigen Jugoslawien übernahm eine westorientierte Elite und zog die bewährte Privatisierung der volkseigenen Restposten durch. Die serbischen Zeitungen gingen weitgehend an den deutschen WAZ-Konzern, heute Funke-Mediengruppe.

Der sogenannte Kosovo-Krieg ist im öffentlichen Bewusstsein weder juristisch, noch zeitgeschichtlich, noch rechtsphilosophisch hinreichend aufgearbeitet. Man hat sich daran gewöhnt, in einem Land zu leben, dass sich ungestraft an Angriffskriegen beteiligt.

Das war ganz sicher einer der Kipppunkte, der zu dem heutigen Chaos geführt hat. Nach dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest, haben die USA die Ukraine nach und nach mit Waffenlieferungen und Nato-Manövern auf ukrainischem Territorium zu einem Defakto-Nato-Mitglied gemacht.

Das der kulturell gespaltenen Ukraine 2014 vom Westen auferlegte, zerstörerische Ultimatum, sich für Russland oder den Westen entscheiden zu müssen, zählt zu den weiteren Ursünden in diesem Konflikt, der schließlich in der Sezession der Krim durch Russland seine bedrohliche Fortsetzung fand.

In welcher Tonart die Nato mit Russland umsprang, zeigte sich immer wieder auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo etwa US-Senator Graham polterte: "2017 ist das Jahr, in dem wir Russland in den Hintern treten müssen."

Schließlich wurde die Frage, ob ein "post-westliches Zeitalter" und ein "Wechsel zu einer neuen Weltordnung" bevorstünde, dort schon gestellt. Weshalb UN-Generalsekretär António Guterres auf der Konferenz auch sagte: "Die größte Bedrohung für die Sicherheit ist das politische Establishment."

Letzter Kipppunkt waren die weitgehenden Forderungen für die Konfliktbeilegung, die seit Dezember vorigen Jahres auf der Website des russischen Außenministeriums für alle einsehbar waren, in Washington übergeben wurden und dort trotz bereits aufmarschierter Truppen keine substanzielle Antwort fanden.

Der Blick auf diese Vorgeschichte bestärkt die Annahme, dass der Krieg bei achtsamerer Politik zu verhindern gewesen wäre. Heute destabilisiert Russlands erbarmungslose Kriegsführung ganz Europa und mit der unverantwortlichen Atom-Drohung womöglich gar den sowieso löchrigen Weltfrieden. Dieser Krieg fällt zurück auf die Machtmethoden voriger Jahrhunderte.

Die Hochrüstungs-Antwort des plötzlich zusammengerückten Westens allerdings nicht minder. Kriege und Rüstungsproduktion sind mit Abstand der größte Umweltverschmutzer, selbst im "Friedensmodus" ist das Militär der größte Emittent von Klimagasen.

Zum Schutz vor Umweltkatastrophen ist daher der beschleunigte Einstieg in erneuerbare Energien nur zweitrangig, erstrangig ist vielmehr der sofortige Ausstieg aus Rüstung und allen militärischen Aktivitäten. Der jüngste IPPC-Bericht macht deutlich: Die Klimakatastrophe wird höchstwahrscheinlich zur größten Massenvernichtungswaffe – ein Genozid bisher nicht gekannten Ausmaßes. Jede zusätzliche Rakete katapultiert uns schneller ins Verderben.

Die jährlich über eine Billion US-Dollar Nato-Rüstung hat auch diesen Krieg nicht verhindern können. Ab wieviel Billionen glaubt das Militär tatsächlich Sicherheit garantieren zu können? Kanzler Scholz hat in einsamer Entscheidung einen "Sonderfond" von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr proklamiert. Leider gibt es dafür keine "Sonder-Steuerzahler".

Aber die überraschten Bundestagsabgeordneten der großen Mitte sprangen begeistert auf und klatschen ihr: JA. Bedrückende historische Analogien drängten sich auf.

Humanistische Anliegen dürfen gerade jetzt nicht dem Gefühl der Vergeblichkeit geopfert werden. Das Ende von Gewissheiten ist nicht das Ende von Orientierung an Normen. Es gilt das Völkerrecht und die UN-Charta, und zwar für alle. Westliche Werte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Wer sich nicht der Rechtsprechung des IGH unterworfen hat, dürfte überhaupt keine Waffe in die Hand nehmen.

So illusorisch das im Moment klingen mag – gerade in der Kriegsfrage müsste der Verfassungsgrundsatz gelten, wonach alle Gewalt vom Volke auszugehen hat. Denn das hat allen Schlamassel abzubüßen. Schon Immanuel Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden gefordert, dass die Beistimmung der Staatsbürger beschließen möge, "ob Krieg sein solle oder nicht". Denn da sie selbst "die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern" haben, würden sie sich sehr bedenken, "ein so schlimmes Spiel anzufangen".

Ausgerechnet General Dwight D. Eisenhower, der vor seiner Zeit als US-Präsident auch Oberkommandierender der Nato in Europa war, kam 1961 in seiner Abschiedsrede zu dem Fazit:

Wir in den Institutionen der Regierung müssen uns vor unbefugtem Einfluss durch den militärisch-industriellen Komplex schützen… Wir sollten nichts als gegeben hinnehmen. Nur wachsame und informierte Bürger können das angemessene Vernetzen der gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie mit unseren friedlichen Methoden und Zielen erzwingen.

Also erzwingen wir, dass zeitgemäße Friedenspolitik nicht einsamen Entscheidungen unumschränkter Machthaber ausgeliefert sein darf. Nur zivile Logik, derer sich jetzt die junge Generation annimmt, kann das Überleben der Gattung wahrscheinlicher machen. Wir sind verdammt, uns zu vertragen, und das geschieht uns recht.