Führt der War on Terror in die Psychiatrie?

Die Positionen von Anklage und Verteidigung im Breivik-Prozess sind politisch brisant

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn eine Tat für den Täter, die Zeugen, für Gericht, Staatsanwaltschaft und selbst die Öffentlichkeit vom ersten Moment an unstrittig ist - dies war und ist 9/11 nie gewesen -, kommt der Tatbegründung die entscheidende Bedeutung zur Bemessung des Strafmaßes und zur Kalkulation seiner Präventivwirkung zu. Im Prozess gegen Anders Breivik, den wohl erfolgreichsten Terroristen der westlichen Welt, werden politikphilosophische Themen diskutiert, die in dieser Form noch nie auf dem Podium eines Gerichtssaales ihre Öffentlichkeit fanden. Die Positionen von Anklage und Verteidigung in Oslo sind brisant, während sie in Deutschland bisher nur als Randnotiz wahrgenommen wurden.

Breivik - ist er ein politischer Täter?

Die taffe Staatsanwältin Inga Bejer Engh trieb Breivik mit dem Nachweis in die Enge, dass sein angebliches Netzwerk nicht existiere. Er sei ein Einzeltäter. Breivik, der seine Tat als politische Tat gewürdigt wissen will, empfand diesen Nachweis als demütigend. Er hoffte, seine Tat werde allein schon aufgrund der Begründung nicht als individuelle Tat subjektiviert, sondern als Teil eines internationalen Kulturkampfes gewürdigt, was wiederum die Chance eröffnete, bisher nicht in Erscheinung getretene Befürworter von den Bildschirmen ihrer Kinderzimmer an die Front der Tempelritter zu locken. Ein "Kommando Anders Breivik" wäre vermutlich der größte politische Erfolg, den sich Breivik aus dem andauernden Diskurs um seine Motive erhoffen könnte.

Dass die Anklage Breivik nicht als politischen Attentäter und Terroristen, sondern als Geistesgestörten behandelt sehen möchte, ist für deutsche oder amerikanische Verhältnisse fast undenkbar. Dort ist es normalerweise die Verteidigung, die den Amokläufer als psychiatrischen Fall der Strafmündigkeit entziehen möchte.

Timothy Mc Vaigh, der am 19. April 1995 in Oklahoma eine 2,4-Tonnen-Bombe gezündet hatte, wurde zum Tode verurteilt und am 11. Juni 2001 durch eine Giftspritze hingerichtet. Bei der Urteilsverkündung bestand der intellektuelle Beitrag des Pflichtverteidigers in einigen, zünftig vorgebrachten "Yes, Sir!", die ihm in künftigen, staatlich finanzierten Prozessen vermutlich als Qualifikation und Referenz dienen könnten.

Verteidigung: Freispruch wegen Notwehr

Geir Lippestad, der Pflichtverteidiger von Anders Breivik, sagte laut National Public Radio (NPR), die von Breivik vertretene politische Haltung sei unter Rechtsextremen weit verbreitet.

Der 22. Juli war ein Inferno der Gewalt, aber wir müssen uns doch ansehen, ob es ihm um die Gewalt selbst oder aber um radikale Politik ging. Es war ihm bewusst, dass es falsch ist, zu töten, aber er entschied sich dafür. Der Zweck heiligt die Mittel. Man kann das nicht verstehen, wenn man nicht die Kultur der Rechtsextremisten versteht.

Geir Lippestad

Da sich Breivik selbst auf ein Notrecht auf Widerstand beruft, fordert seine Verteidigung rechtskonform - Breivik hatte sich als "nicht schuldig" bekannt - den Freispruch für Breivik. Eine sensationelle Argumentation in einer Welt, in der seit 9/11 sogenannter "Terrorismus" mit sofortiger Liquidierung und selbstverständlich ohne Staatsanwalt, Öffentlichkeit und Verteidigung zu ahnden ist, ohne dass Gerichtsreporter darüber eine Zeile verlieren.

Um Breiviks Motive zu beurteilen, sind seine Tagebücher aufschlussreicher als sein zusammengeschustertes Manifest. So schreibt Breivik im Abschnitt Oktober-November 2010 über seine Nichte und seine Schwester:

They are both career cynicisms and only really care about feeding their own egos. I understand that mentality though as I've been there myself. Still, such apathy is the root cause of both US and especially Western Europe's problems.

Anders Breivik

Das hier auftauchende altruistische Moment im politischen Terrorismus bildet auch den psychosozialen Hintergrund für Selbstmordattentäter.

Der islamkritische Blogger Fjordman, Pseudonym von Peder Are Nøstvold Jensen, von dem Breivik viel übernahm, bezeichnete einen "Eurabia Code" als Hauptproblem Europas, eine schleichende Islamisierung Europas. Dass der Großteil der Einwanderer aus islamischen Staaten vor der anachronistischen Islamisierung im eigenen Land in den aufgeklärten Atheismus Frankreichs, Hollands und Deutschlands einwandert, hat Fjordman und seine Mitstreiter nie interessiert.

Weltpolitik zwischen den Zeilen

Beide Positionen, also die der Anklage wie die der Verteidigung, sind im Hinblick auf Breiviks Tatbegründung, nämlich die Bedrohung Norwegens durch Muslime, äußerst brisant. Die Verteidigung bezeichnet Breiviks Position als gängiges Motiv im Rechtsextremismus, sozusagen als common sense der Islamophobie, der auch das Zwickauer Trio antrieb.

Da diese Position aber von mehreren Staaten und Regierungen vertreten wird, auf deren Nennung wir hier verzichten können, sagt die Verteidigung zu Recht: Die Position von Breivik ist keineswegs ungewöhnlich. Wir bezeichnen sie als "rechtsextrem", aber bereits das Manifest von Breivik enthielt Literaturhinweise von Broder bis Sarrazin.

Das Council on Foreign Relations sah noch im September 2011 eine wachsende Gefahr von islamischem Terrorismus in den USA.

Die angebliche Bedrohung durch Terrorismus ist auch unter Obama ein Hauptmotiv der US-Außenpolitik geblieben. Dieses Motiv besteht völlig unabhängig von jeder statistischen und politischen Realität.

Ist Islamophobie eine Form von Geisteskrankheit?

Während die Verteidigung die Islamophobie als natürliches Leitmotiv des Rechtsextremismus zumindest als politische Haltung einstuft, geht die Staatsanwaltschaft weiter: Die Vorstellung, Muslime könnten Norwegen unterwandern und zu einem islamischen Kalifat machen, ist derart unrealistisch, dass man an ihr Geisteskrankheit diagnostizieren muss. Breiviks Begründung ist eine als paranoide Zwangs- und Wahnvorstellung diagnostizierbare Psychopathologie. Der Blick fällt auf die Definition von Wahnvorstellungen :

Beim Wahn entwickelt der Betroffene krankhafte falsche Vorstellungen, die von der Realität abweichen, bzw. bei denen Dinge in der Umwelt falsch interpretiert werden, ihnen eine falsche Bedeutung beigemessen wird. Die Wahnvorstellungen sind dabei für ihn so wirklich, dass er unbeirrbar daran festhält, sie nicht anhand der Realität überprüft und sich auch nicht von anderen korrigieren lässt.

Ob sich die vorher erwähnten Regierungen bewusst sind, was es bedeuten würde, wenn Breiviks Tatmotive Basis der Diagnose zur unbefristeten Einweisung in die geschlossene Psychiatrie würden?

Es gibt Menschen, Gruppen und leider auch Staaten, für die die Vorstellung unerträglich ist, es könne irgendein Recht außer des eigenen, subjektiven Rechts des Stärkeren geben. Wir möchten hier bewusst, ganz norwegisch sozusagen, darauf verzichten, die Namen dieser Staaten zu erwähnen.

Aus gutem Grunde haben diese Staaten selbst einen konventionell strafrechtlich agierenden Internationalen Strafgerichtshof abgelehnt. Zumindest in einem norwegischen Gericht müssten die Strategen des "War on terror" nämlich befürchten, entweder von der eigenen Verteidigung nicht als Friedensdiener einer Demokratie, sondern als Kampfeinheit des internationalen Rechtsextremismus bezeichnet oder ersatzweise von Inga Bejer Engh für schuldunfähig erklärt werden. Der Realitätsgehalt der Behauptung der Existenz eines von nationalen Konflikten losgelösten "internationalen Terrorismus" ist nämlich nicht größer als der der These von einer Islamisierung Europas.

Beide Diagnosen, Rechtsextremismus und Wahnvorstellung, bieten keine guten Aussichten für die Fortsetzung des War on Terror