Fünf Herausforderungen für die Wikipedia
Vor fünf Jahren wurde die Online-Enzyklopädie gegründet und ist zu einem großen und einflussreichen Projekt herangewachsen, aber es nehmen auch die Probleme zu
Fünf Jahre ist die Wikipedia nun alt - für eine Webseite ist das ein stolzes Alter. Vom kleinen idealistischen Internetprojekt ist die freie Online-Enzyklopädie zu einem der Big Player des Internets herangewachsen. Damit ist die Wikipedia keineswegs am Ziel - vielmehr kommen ständig neue Herausforderungen auf sie zu. Wir skizzieren hier fünf davon.
Herausforderung 1: Organisation
Die Wikipedia hat erst seit zweieinhalb Jahren einen eigenständigen organisatorischen Rahmen: die Wikimedia Foundation. Die Personalausstattung ist angesichts der Größe der Wikipedia äußerst dünn: Bisher sind nur zwei Vollzeitkräfte und eine Teilzeitkraft mit Betrieb und Verwaltung der Wikipedia betraut. Das reicht mit Hilfe eines großen Reservoirs an Freiwilligen und des unbezahlten Wikipedia-Vorstandes nur für die notwendigsten Arbeiten zur Bewahrung des Status Quo aus.
Neue Initiativen sind damit nicht zu stemmen - neue Impulse kommen aus den einzelnen Wikipedia-Projekten und werden auch von diesen umgesetzt - oder auch nicht. Die Koordination läuft über diverse Wikis, Mailinglisten und Chats, an keiner Stelle laufen wirklich alle Fäden zusammen. Jedes Projekt kann seine Probleme auf eigene Weise lösen. Dies verschafft den einzelnen Wikipedia-Ablegern zwar eine Eigenständigkeit, die bei individuellen Problemen sehr nützlich sein kann. Ob positive oder negative Erfahrungen einem anderen Projekt weiterhelfen, ist zu einem guten Teil Zufall.
Mit dem Budgetplan des ersten Quartals 2006 soll das Problem zumindest schrittweise angegangen werden - eingeplant sind vier neue Vollzeit-Stellen, darunter auch ein "Language Outreach Coordinator", der die Kommunikation zwischen den einzelnen Wikipedia-Sektionen in die Gänge bringen könnte. Wichtigster Posten ist aber wohl der eines "Donor Relations Managers", der dem enorm gestiegenen Finanzbedarf - allein im ersten Quartal 2006 steht die Anschaffung von 110 Servern auf dem Plan - entgegenkommt. Bisher finanziert sich die Wikimedia Foundation weitgehend über Privatspenden. Das verschafft dem Projekt zwar Unabhängigkeit, der letzten Spendenaufruf hat aber gezeigt, dass diese Geldquelle begrenzt ist.
Will man Werbung weiterhin als Finanzierungsquelle ausschließen, müssen in Zukunft verstärkt Großspender geworben werden. Soll die Wikimedia Foundation zu einer schlagkräftigen Organisation heranwachsen, die nicht nur mit viel Mühe die eigenen Plattform am Laufen hält, muss sie diesen Weg weitergehen - und auch für Streitigkeiten mit der Wikipedia-Community gerüstet sein. Bisher ging die Stiftung jeder unpopulären Entscheidung soweit wie möglich aus dem Wege. Will sie Akzente setzen, wird das nicht immer so bleiben.
Herausforderung 2: Lizenzproblematik
Als die Wikipedia im Jahr 2001 geschaffen wurde, gab es noch keine große Auswahl an freien Lizenzen wie heute. Die GNU Free Documentation License (GFDL) erschien als die geeignetste Lizenz, eine Datenbank mit freien Enzyklopädieartikeln aufzubauen. Ursprünglich war diese Lizenz von der Free Software Foundation für den Einsatz bei Softwaredokumentationen geschaffen worden.
Im Laufe der Zeit hat sich diese freie Lizenz jedoch als sperrig und teilweise unausgereift erwiesen. So hat das Debian-Projekt der GFDL schon vor langer Zeit die kalte Schulter gezeigt und will Dokumentationen, die unter dieser Lizenz stehen, nicht mehr in die Haupt-Distribution integrieren. Grund dafür ist die Inflexibilität des Lizenztextes, der es nach genauer Auslegung sogar verbietet, die Dokumentationen auf verschlüsselten Datenträgern abzulegen.
In der Anwendung mit Wikipedia-Inhalten zeigt die GFDL besondere Probleme - so ist die Wikipedia zwar in über 100 Sprachen verfügbar, eine verbindliche Fassung der Lizenz gibt es aber nur auf Englisch. Die Lizenz schreibt vor, den Lizenztext mit jeder Verwertung des Textes mitzugeben - ein Buch mit Wikipedia-Inhalten, muss deshalb neben den Autorenangaben auch die sperrige Lizenz beinhalten. So sind bei dem ersten aus Wikipedia entstandenen Sachbuch neun Seiten alleine dem Abdruck des Lizenztextes gewidmet. Angesichts eines Umfangs von 272 Seiten ist das tragbar - bei kürzeren Werken oder der Verwendung von einzelnen Wikipedia-Artikeln jedoch nicht.
Auch die Übertragbarkeit von Wikipedia-Inhalten in andere freie Projekte ist aufgrund der Inkompatibilität der GFDL nicht machbar. Dieses Problem ist im Prinzip einfach zu lösen: Erscheint eine neue Version der GFDL, können die Inhalte nach den neuen Bestimmungen weitergegeben werden. Diese neue Version kann aber nur von der Free Software Foundation aufgestellt werden, deren Prioritäten zur Zeit bei der General Public Licence liegen.
Von anderer Seite wird das Problem schon angegangen: Lawrence Lessig hat die Gefahr der Inkompatibilitäten der Creative Commons Lizenzen mit der GFDL Ende letzten Jahres thematisiert. Er gründete einen Arbeitskreis, um zumindest eine Einweg-Kompatibilität zu schaffen. So können dann auch Inhalte in die Wikipedia aufgenommen werden, die unter einer freien, heute aber noch inkompatiblen Lizenz erstellt wurden. Aber selbst bis dieser erste Schritt gemacht wird, wird es noch einige Zeit dauern.
Herausforderung 3: Der Kampf mit der Transparenz
Vordergründig ist die Wikipedia Transparenz in Reinkultur. Jede Artikeländerung, jeder Diskussionsbeitrag, jedes Abstimmungsverhalten wird archiviert - inklusive Datum, Accountname oder IP-Adresse. Noch über Jahre kann man so feststellen, wer für oder gegen die Löschung eines Artikels votiert hat oder welche Kritikpunkte in einem religiösen Artikel aufgelistet waren. Nur bei schweren Verstößen gegen die Wikipedia-Regeln werden einzelne Änderungen aus der Datenbank gelöscht.
Diese Transparenz hat auch Schattenseiten. Jeder kann sich sehr bequem informieren, wer was und wann in der Wikipedia editiert hat. Folge: Viele Wikipedianer - und auch die meisten der Wikipedia-Administratoren - ziehen sich in die Anonymität zurück. Zu groß scheint die Gefahr, dass sich ein Gegner oder Arbeitgeber aus dem reich bestückten Datenangebot belastbare Äußerungen heraussuchen. So ist es einem Arbeitgeber nur schwer zu vermitteln, wieso man in der Wikipedia editiert hat, wenn man krank geschrieben oder eigentlich im Dienst war.
Auf der anderen Seite fehlt es an Transparenz. Für den Außenstehenden - und auch für viele Insider – ist vollkommen unklar, wie Entscheidungen innerhalb der Wikipedia zu Stande kommen - und auf welche Konstanten man sich verlassen kann. Die Wikipedia vereint - nach eigener Darstellung - Elemente aus Anarchie, Demokratie, Diktatur, Plutokratie, Technokratie und Meritokratie. Im Laufe der Jahre ist innerhalb der Wikipedia ein äußerst kompliziertes soziales Umfeld gewachsen, das auf viele verschiedene Arten Entscheidungen produziert. So sind Abstimmungen verpönt, weil sie angesichts der marginaler Wahlbeteiligungen kaum Legitimation vorweisen können. Dennoch werden Administratoren über eben solche Abstimmungen gewählt. Konfliktregelungsmechanismen existieren zwar formal, versagen in der Praxis aber oft. Diese Inkonsistenzen sorgen für ständig neues Konfliktpotenzial und sind Neu-Wikipedianern nur schwer zu vermitteln.
Herausforderung 4: Das Einbinden von Fachleuten
Ein Projekt zur Sammlung des "Weltwissens" kann nicht gut auf bestehende Wissenstöpfe verzichten. So warb Jimmy Wales in der Zeitschrift Nature um die Beteiligung von Wissenschaftlern an der Wikipedia. Doch heute bietet die freie Enzyklopädie für Wissenschaftler ein gelinde gesagt ungewohntes Arbeitsfeld. Tradierte Arbeitsabläufe werden über den Haufen geworfen, wenn die Texte quasi mitten im Peer Review entworfen und gleich wieder über den Haufen geworfen werden.
Hinzu kommt die enorme soziale Dynamik der Wikipedia. So kann ein Professor im Streit um die Inhalte eines Artikels ohne weiteres gegen einen absoluten Laien das Nachsehen haben, wenn dieser nur genug Zeit und Energie in die Durchsetzung seiner eigenen Fassung steckt. Kritisiert wird dieses Phänomen als die "Diktatur derer, die zuviel Zeit haben".
Die Wikipedia wirbt nun gezielt um mehr Fachkompetenz. Im Juni wurde an der Universität Göttingen eine Wikipedia-Konferenz für Wissenschaftler abgehalten. Ziel ist es, den Wissenschaftlern die Konzepte der Wikipedia näher zu bringen. Erfolgreich kann dieser Anwerbevorgang aber nur sein, wenn die Überzeugungsarbeit nicht nur in einer Richtung verläuft. So können die Wikipedianer vom Wissenschaftsbetrieb noch einige Tugenden dazulernen, wie zum Beispiel einen einheitlichen Umgang mit Quellen. Die muss sich der Wikipedia-Leser bisher aus Artikeltext, Diskussionsseite und Versionshistorie zusammensuchen - falls überhaupt Quellen angegeben sind. Auch bei der Durchsetzung einer stringenteren Textstruktur könnte sich er Einfluss des Wissenschaftsbetriebs als heilsam erweisen.
Herausforderung 5: Flagge zeigen im feindlichen Umfeld
Bisher ist Wikipedia in einem relativ wohl gesonnen Umfeld groß geworden. Doch mit der gestiegenen Bedeutung der Wikipedia wird dies nicht so bleiben. Bisher versuchte die Wikipedia möglichen Rechtsstreitigkeiten immer aus dem Wege zu gehen, doch es wäre naiv zu glauben, dass diese Strategie auf ewig von Erfolg gekrönt wäre. Zu vielfältig sind die Ansprüche an die Wikipedia.
Die Masse der Klagen und Verfügung gegen Suchmaschinenanbieter gibt einen Vorgeschmack auf das, was auf die Wikipedia zukommen könnte. Will die Wikipedia nicht im Kreuzfeuer von Markenrechten, Verleumdungsklagen und Abmahnungen zerrieben werden, muss sie ihre Grundsätze klar definieren und notfalls auch aktiv durchsetzen. Gleichzeitig muss sich die Wikipedia an ihrem eigenen Anspruch messen lassen, das Wissen benachteiligten Ländern zukommen zu lassen. Gerade in Entwicklungsländern sind die politischen Verhältnisse für freie Publikationen nicht gut. Derzeit wird beispielsweise die Wikipedia nach Medienberichten wieder in China blockiert. Will die Wikipedia mit dem eigenen Anspruch mithalten, reicht es nicht aus zu warten, bis sich die Betroffenen selbst eigene Wikipedia-Plattformen einrichten. Doch bis die Wikipedia hier tatsächlich politisch wirken kann, ist es noch ein weiter Weg.