Fußball ohne Spiel
Wie die Allianz zwischen dem beliebtesten deutschen Mannschaftssport und dem Massenmedium Fernsehen das Fußballspiel veränderte: Eine Betrachtung aus der Perspektive des Technikdeterminismus, im Schatten von WM 1954 und EM 2004
Zahllose Tore und Glanzparaden, rote und gelbe Karten und ungezählte Bänderrisse liegen zwischen diesen Ereignissen: Im für die deutsche Nationalmannschaft blamablen EM-Jahr 2004 feierte die Nation das 50. Jubiläumsjahr des "Wunders von Bern". Die mehrfach prämierte Verfilmung des geschichtlichen Ereignisses von 1954 kontrastierte mit einem Ex-Teamchef Rudi Völler der, des Trainingsplatzes verwiesen, eine mittelmäßige Truppe kopflos zurückließ. Wie viel Unterschied liegt zwischen diesen beiden emotionalen Höhepunkten?
Emotionale Differenzen sind schwer zu messen, die vorhandenen Veränderungen aber anderweitig darstellbar. Es ist vor allem eine Medientechnik, die von herausragender Einflussnahme auf den Fußball der letzten fünfzig Jahre verantwortlich zeichnet: das Fernsehen.
Die Symbiose von Fußball und Fernsehen
Wichtig sind nicht die Inhalte eines Mediums, sondern seine Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen. So lautet der Kern von Marshall McLuhans griffiger Formel: "Das Medium ist die Botschaft". Die Strahlkraft dieser medientheoretischen These ist auch beim Aufspüren der gesuchten Differenz hilfreich. Dabei ist die "Botschaft", welche das Medium Fernsehen dem Fußball gebracht hat, eine allumfassende. Kein Teilbereich des beliebtesten Ballspiels der Welt blieb davon unberührt und alle daran aktiv oder passiv Beteiligten hat die mediale Evolution des Fußballs verändert. Das hatte auch Auswirkungen auf das Nachdenken über die Disziplin.
Heute interessieren sich nicht mehr nur Sportmedizin, Bierbrauer und Schuhhersteller, sondern auch Kulturwissenschafter und Marketingexperten für den Fußball. Die Veränderungen der letzten fünfzig Jahre sind das Resultat einer konsequenten Anpassung des Fußballspiels an die Nachfragestruktur zuerst des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und danach des Werbemarktes der privaten Sender. Selbst die TV-Geräte-Hersteller hoffen bei jedem internationalen Turnier auf einen Aufschwung, seit die überraschende Weltmeisterschaft 1954 einen Fernsehboom auslöste. Dieses Jahr blieb dieser nicht nur durch das frühe Ausscheiden der Nationalmannschaft im Ansatz stecken, denn neben dem individuellen Fernsehkonsum ist das Gruppenerlebnis wieder in Mode. Die Sportbegeisterten schauen wieder zusammen auf die Großbildleinwand in der Kneipe. Eine kleine Renaissance, denn auch in der Nachkriegszeit, als es nur wenige Geräte in Privatbesitz gab, wurde, wenn nicht dem Radio gelauscht, vor öffentlichen Fernsehgeräten mitgefiebert.
Auf Arbeitsgeräte und Regeln wirkte das Fernsehen ebenso ein, wie ein Vergleich des kleinen Spielgerätes zeigt: Hier der kiloschwere (besonders bei Regen) Lederball mit den Flugeigenschaften eines Felsbrockens, dort die Hightech-Kugel aus mehrlagigem Synthetikmaterial mit einer speziellen Flugkurve; Bälle als Superstars mit Charakter, auf allen Kanälen präsentiert und diskutiert. Auch sind aus einem einzelnen Ball, auf den beim verfehlten Torschuss mitunter lange gewartet werden musste, dutzende Balljungen mit ebenso vielen Bällen geworden; es soll nämlich, falls es eine gibt, die Dynamik nämlich nicht aus dem Spiel entweichen. Und natürlich könnte ein technischer Spieler wie Zinedine Zidane mit einem Ding, das so sensibel und charmant wie ein geschrumpfter Medizinball ist, sich und seine Fähigkeiten zum Entzücken der Fans nur schwer ins rechte Licht rücken. Eine Erhöhung der Dynamik bewirkt auch eine höhere Attraktivität.
Darunter sind auch Regeländerungen zu zählen, die ein zu defensives und passives Spiel verhindern sollen. Die "Rückpassregel", welche 1992 eingeführt wurde, ist die augenfälligste unter ihnen: Das Verbot des Torhüters einen mit dem Fuß zu ihm zurückgespielten Ball mit der Hand aufzunehmen, brachte eine enorme Einsparung an Pausen und eine enorme Anforderungserhöhung an die athletisierten Abwehrspieler. Einer anderen Regeländerung hat sich der Fußball allerdings bis jetzt widersetzt: Immer wieder erschallt der Ruf nach mehr Auszeiten, Pausen oder Unterbrechungen, um weitere Möglichkeiten der Vermarktung zu schaffen. Dies wurde bisher verhindert, dafür blähte sich das Rahmenprogramm auf, auch nicht immer zur Freude der Fußballfans.
Der Spieler und sein Anhänger
Der zeitgenössische Fußball wird von seinen Kritikern, welche sich vielleicht das puristische, ehrliche Duell der "elf Freunde" zurückwünschen, oft als kommerzialisiert bezeichnet. Augenzeugen der Weltmeisterschaft von 1954 wie langjährige Fachjournalisten und der einfache Fan sehen das Millionenspiel um den Ball zunehmend mit gemischten Gefühlen. Dabei ist Kommerzialisierung ein der Professionalisierung nachgeschalteter Prozess, und der Berufsfußballer als Hauptakteur ist ein Kind des Fernsehens, der Profi mithin ein Medienstar. Der vielfachen Unzufriedenheit mit dieser Entwicklung folgt eine Verwerfung im Verhältnis zwischen dem Zuschauer (der heute Anhänger und Konsument in einer Person ist) auf der einen, und den Spielern und Vereinen auf der anderen Seite. Zwei Beispiele machen diese Verschiebung deutlich. Peco Bauwens hielt als Präsident des Deutschen Fußballbundes am 6. Juli 1954 im Münchner Rathaus eine Rede, in der er sagte:
Das deutsche Volk in seiner ganzen Breite hat jetzt etwas empfunden, was Begeisterung heißt für eine edle Sache, die edle Sache des Sports. Nicht nur die Jugend, auch die älteren Semester standen auf dem Acker mit dem Dreschflegel und winkten (...)
Jahre später liefert ein Fan-Brief an den brasilianischen Weltmeister Romario das moderne Kontrastprogramm dazu:
Ich würde alles dafür geben, Dich bei mir zu haben. Weil das aber nicht möglich ist, bitte ich Dich um einen Farbfernseher, damit Du immer in meiner Nähe bist.
Das Verhältnis zwischen Spieler und seiner Anhängerschaft hat sich personalisiert. "Wir wollten keine Helden sein", sagte der Weltmeister von 1954, Horst Eckel, auf der offiziellen Jubiläumsveranstaltung dieses Jahr in Kaiserslautern; und doch wurden er und seine Mitspieler dazu gemacht. Dabei war der Kader der Weltmeistermannschaft aus heutiger Perspektive alles andere als heldenhaft: kleiner Angestellter, Postbeamter, Chauffeur, Arbeiter, Herrenfriseur oder Inhaber von Toto-Lotto-Annahmestellen. Das waren die Standardberufe der Protagonisten des deutschen Amateur-Nachkriegsfußballs, die Bundesliga wurde erst 1963 eingeführt. Der Amateur, der früher auch schon mal in Naturalien bezahlt wurde, mutierte zwischenzeitlich zum Angestellten des Vereins, um heute als quasi Selbstständiger mit eigenem Beraterstab nur noch durch komplizierte Zeitarbeitsverträge an die Farben gebunden zu sein, für die er gerade spielt.
Im 19. Jahrhundert im englischen Oxford und Cambridge (erste allgemeine Regeln 1848) als elitäre Sportart etabliert, wurde das Fußballspiel erst Anfang des 20. Jahrhunderts zum Volkssport. Arbeitersportvereine waren der eigentliche Humus, auf dem breite Bevölkerungskreise zum Fußball fanden. So war es also durchaus normal, dass man die WM-"Stars" von 1954 als Nachbarn kannte und Morgens in Duisburg oder Dortmund beim Bäcker einen von ihnen traf. Die Wandlung zum heutigen Erscheinungsbild eines David Beckham ist augenscheinlich: Ständige Promotion lässt Stars dieser Kategorie ohne Unterlass um den Globus fliegen. Das verengt die Räume privater Kontakte außerhalb des Spielfeldes erheblich. Vielleicht erleben wir im Zeitalter der VIP-Logen einen globalen Medienadel in Form von Spitzensportlern, und so etwas wie die Re-Feudalisierung des Sports. Oder zumindest die Rückkehr des Fußballs zu seinen elitären Wurzeln: Macht der Rowohlt-Verlag mit seiner EM-Abteilung die intellektuelle Begleitmusik zum eigentlich geschmähten "Proletensport"?
Jedenfalls wäre eine persönliche Nähe zu den Stars heute unvorstellbar. Im modernen Spitzensport haben die "Balltreter" nicht mehr die Notwendigkeit vor oder nach der Karriere in einem "bürgerlichen Beruf" zu arbeiten. Die meisten Profis haben gar keinen Beruf mehr gelernt. Im Extremfall werden sie in früher Jugend in Sportinternaten auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet - und finanzielle Probleme stellen sich nach dem Ende der Karriere sowieso nicht mehr ein. Der Straßenfußballer ist die Ausnahme geworden.
Die Verbindung zwischen Fan und Star ist deshalb von einer intimen Ferne bestimmt, ohne die allerdings der moderne Sportstar nicht das wäre, was er zu sein scheint: Eine Person, die sich von anderen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und Talente abhebt. Er ist in einer sozialen Distanz zum Fan in einer anderen Lebenswelt zuhause, wobei Intimität und Gemeinsamkeit zwischen beiden ausschließlich durch Medienvermittlung hergestellt wird. Aus den "local club supporters" wurden die "soccer interested consumers", so das Fazit der Soziologie.
Der Verein und sein Stadion
Diesem folgte auch eine Neugestaltung der Orte, an denen die Verbindung zwischen Zuschauer und Akteur stattfindet. War das legendäre Wembley-Stadion anfangs nur eine Wiese mit zwei Holztoren, lässt sich in der Arena "Auf Schalke" nicht nur das Spielfeld komplett aus- und einfahren, sondern durch Schließen des Daches das Ganze auch innerhalb von Minuten in eine abgeschlossene Räumlichkeit verwandeln. Dies lässt einen viel stärkeren Einbezug der Zuschauer zu. Diejenigen, die persönlich anwesend sind, werden selbst ein Teil des Ereignisses. Dazu kommt der Versuch, durch eine zweistellige Zahl von Fernsehkameras dem Zuschauer aus der Ferne so etwas wie Stadionatmosphäre nahe zu bringen, und das aus jeder nur vorstellbaren Perspektive.
Jeder, der schon einmal in einem Stadion war, weiß natürlich, dass die Übertragung ein ganz anderes Spiel hervorbringt, nicht nur weil die eigentliche Killer-Applikation der Sportübertragung, die Zeitlupe, den Zuschauer in bestimmten Fällen zum Richter über den (Schieds)Richter machen kann. Auch durch Nahaufnahmen wird in der Ferne eine Intensität erzeugt, die im großen Oval so niemals möglich wäre. Die ursprüngliche Befürchtung, Fernsehübertragungen würden die Zuschauer aus den Stadien fernhalten, ist jedenfalls nicht eingetreten. Auch oder gerade weil die privaten Kabel- und Satellitensender Formate wie das von Reinhold Beckmann erfundene "ran" etablieren konnten. Der Konsumentenkreis hat sich trotzdem vervielfacht.
Auf institutioneller Ebene vollzogen sich Veränderungen innerhalb von Vereinen und Verbänden durch die organisatorische Trennung von Breitensport und kommerziellem Sport. Auch wirtschaftlich und juristisch haben die Amateurabteilungen mit denen der professionalisierten nicht mehr viel zu tun. Vereine als Aktiengesellschaften sind nur das Ende einer ganzen Kette von Abtrennungen des heute autonomen Wettkampfsports, der von Managern und Rechteverwertungsgesellschaften geführt, nicht zufällig immer engere Verbindungen mit Medienunternehmen eingeht. Aus einst mitgliederfinanzierten, "freiwilligen Vereinigungen" wurden kommerzielle Dienstleistungsunternehmen.
Dadurch wurden aus ehrenamtlichen Helfern festangestellte und gutbezahlte Funktionäre aus Politik und Wirtschaft, welche die hauptsächlich aus dem Verkauf von Fernsehrechten kommenden Einnahmen verwalten. Auch auf internationaler Ebene hat sich dies vollzogen: Die FIFA hat heute mit 204 Mitgliedsverbänden eine flächendeckendere Verbreitung als die UN und das Spielertransfersystem ist längst globalisiert. Die hieraus resultierende Vereinsferne hat wiederum Rückwirkungen auf das bindende Image eines Spielers. Ein Verein ist heute nicht mehr stolz, einen Spieler aus seiner Jugendabteilung hervor zu bringen, sondern einen Star auf dem internationalen Markt kaufen zu können. Vielleicht braucht die gelockerte Kopplung der Spieler an ihre Vereine etwas hochschwebend Losgelöstes, aber auch etwas, das eine Identifikation über das Medium ermöglicht: einen personalisierten Mythos namens "Superstar", der ein "vereinsloses" Publikum zu binden versteht. Dieser Mythos ist aber nur durch Medien machbar, womit wir wieder bei Marshall McLuhan wären, der das Zeitalter der elektronischen Medien als eines der neuen Mythen ansah. Aber das ist eine andere Geschichte.