Gabriel für Kehrtwende beim Fetisch Sparpolitik gegenüber Griechenland
Seite 2: Starkes Strafbedürfnis gegenüber den "faulen Griechen"
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Doch selbst dieses anscheinend rationale Machtkalkül Berlins, bei dem die Krisenpolitik dem Wahlkampf untergeordnet wird, ruht eigentlich auf einem irrationalen Fundament. In der deutschen Öffentlichkeit herrscht immer noch ein starkes Strafbedürfnis gegenüber den "faulen Griechen".
Die Hellenen sollen jetzt für ihre "Sünden" büßen - für die Faulheit und Korruption, die dem Land im deutschen Krisendiskurs unterstellt werden. Mit dieser Propaganda, wonach die Griechen ihre Lage selber verschuldet hätten, wurden ja die drakonischen Austeritätsmaßnahmen legitimiert, die Berlin dem Land verordnete.
Das Strafbedürfnis gegenüber Hellas ist in der Bundesrepublik auch deswegen so groß, weil hierzulande die Entbehrungen der Agenda 2010 erduldet wurden. Durch die Hinnahme dieser neoliberalen "Reformen" in Deutschland glaubt man sich im Recht, auch anderen Ähnliches aufnötigen zu können. Fazit: Deutschlands Politkaste ist Opfer seiner eigenen Ideologie geworden.
Kurz vor den Wahlen ist es offensichtlich, dass die Politik der harten Hand in Hellas grandios gescheitert ist, doch zugleich ist eine Wende kaum möglich, da der entsprechende Diskurs von den "faulen Griechen" sich längst verselbstständigt hat. Die Mehrheit des Wahlvolks glaubt an den Unsinn von der "schwäbischen Hausfrau", mit dem sie jahrelang gefüttert wurde.
Sparauflagen als fetischistischer Selbstzweck
Berlins Spardiktat gegenüber Athen verfolgte anfänglich noch ein machtpolitisches Kalkül, solange die Syriza-Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit die deutsche Krisenpolitik in der Eurozone offen herausforderte. Doch dies ist längst Geschichte, nachdem Schäuble Syriza im Sommer 2015 das Genick brach. Die knallharte Austeritätspolitik Berlins, mit der die deutsche Dominanz in der Eurozone gefestigt wurde, wird somit langsam dysfunktional.
Die immer neuen Sparauflagen wandeln sich zu einem fetischistischen Selbstzweck, der letztendlich irrational-sadistisch motiviert ist. Mehr noch: der wirtschaftliche Fallout des deutschen Sparregimes in der EU bedroht deren Zusammenhalt immer stärker.
Dass eine Kehrtwende in der Krisenpolitik gegenüber Griechenland längst überfällig ist, haben all jene Teile der deutschen Funktionseliten längst erkannt, die nicht um ihre Wiederwahl bangen müssen. Im Sommer 2015, als Syriza noch die neoliberale Politik Berlins herausforderte, plädierte etwa der Arbeitgebervertreter und BDI-Präsident Ulrich Grillo dafür, Griechenland aus dem Euro zu werfen.
Damit befanden sich Deutschlands Arbeitgeberverbände voll auf der kompromisslosen Linie von Finanzminister Schäuble, der im Sommer 2015 zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands aufstieg. Gerade wegen seines knallharten Umgangs mit Griechenland.
Der Wind dreht sich
Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Nun fordert BDI-Präsident Grillo, Hellas im Euro zu halten, indem man dem geschundenen Land im gewissen Rahmen entgegenkommt. Angesichts des drohenden Brexit und der zunehmenden Zerfallstendenzen in der EU scheinen sich zumindest in den Reihen der Unternehmensverbände die ungeheuren Vorteile herumgesprochen zu haben, die Deutschland aus der Eurozone zieht.
Ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro könnte einen weiteren Zerfall des europäischen Währungsraums mit sich bringen, der die massiven Exportvorteile zunichtemachen würde, die derzeit Deutschlands Wirtschaft aufgrund der Unterbewertung des Euro besitzt. Gerade wenn schwache Länder wie Hellas im Euro gehalten werden, wird dessen Unterbewertung in Relation zu der deutschen Wirtschaftsstärke aufrecht gehalten.
Letztendlich scheint man beim BDI einfach die Kosten des Euro mit dessen Vorteilen verrechnet zu haben. Dazu ist der in Ressentiments und sadistischem Strafbedürfniss verfangene deutsche Stammtisch naturgemäß kaum in der Lage - der insbesondere in Wahlkampfzeiten zu einem wichtigen Faktor der Politik avanciert. Der machtpolitisch dysfunktionale deutsche Sparwahn bedroht inzwischen die Grundlage des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells - den Euro.
Irgendwer müsste dies nur dem dumpfen deutschen Stammtisch verklickern, der sich immer noch in sadistischen Phantasien gegenüber den "faulen Griechen" suhlt. Und letztendlich wird es der Politik überlassen bleiben, diese Kehrtwende - spätestens nach der Bundestagswahl - einzuleiten, falls es bis dahin nicht zu spät sein wird.
Der "Mut" der SPD
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheint der anfangs erwähnte "mutige" Vorstoß von Außenminister Gabriel in einem anderen Licht. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kehrtwende gegenüber Hellas ist in den Reihen der deutschen Wirtschaft längst herangereift, wobei Schäuble und die reaktionärsten Teile der CDU aus ideologischen und/oder wahltaktischen Motiven heraus sich dem noch widersetzen.
Hier signalisiert Gabriel im Namen der SPD hingegen die Bereitschaft, sozioökonomische Notwendigkeiten dem bloßen wahltaktischen Kalkül voranzustellen. Dieses Signal richtet sich in erster Linie nicht an das gemeine Wahlvolk, sondern an die Chefetagen der Industrie. Mit einem Satz: Der SPD-Politiker ist nur deswegen so "mutig", Schäuble herauszufordern, weil dessen sadistisches Sparregime seinen machtpolitischen Zweck in der Eurozone längst erfüllt hat - und inzwischen dem langfristigen strategischen Interessen der deutschen Wirtschaft zuwiderläuft, die zuallererst den Euro halten will.
Schäuble scheint somit ein im Sparwahn verfangenes Auslaufmodell zu sein, das nach der Wahl - unabhängig von deren Ausgang - entsorgt werden dürfte. Gabriel demonstriert wiederum die Bereitschaft der SPD, auch eingefahrene ideologische Argumentationsmuster schnell aufzugeben, sobald diese ihren Machtpolitischen Zweck erfüllt haben. Ganz ohne Rücksichtnahme auf die üblichen Stammtischparolen.