Gaskrise in Deutschland: Folgen für Millionen Arbeitsplätze
Tiefe Rezession oder entspanntes "Weiter so": Deutsche Wirtschaftsinstitute gehen in ihren aktuellen Prognosen auseinander. Doch niemand schließt erhebliche Schäden komplett aus.
Kann die Bundesrepublik einen Stopp der russischen Gaslieferungen verkraften – diese Frage dürfte momentan viele umtreiben. Am Dienstag stellten mehrere Wirtschaftsinstitute ihre Studien dazu vor – und die Ergebnisse könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Spannbreite der Prognosen reichen von "es entsteht keine Versorgungslücke" bis hin zu einer tiefen Rezession.
Letzteres ist das Ergebnis einer Studie des Prognos-Instituts, die von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) in Auftrag gegeben wurde. Sollten russische Gaslieferungen im kommenden Halbjahr ausbleiben, dann würde die Wirtschaftsleistung Deutschlands um 12,7 Prozent einbrechen, was einem Verlust in der Wertschöpfung von rund 193 Milliarden Euro entspricht.
Es drohten flächendeckend Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und ein dauerhafter Verlust industriellen Strukturen. "Insgesamt wären rechnerisch etwa 5,6 Millionen Arbeitsplätze von den Folgen betroffen", sagte am Dienstag vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.
Michael Böhmer, Chefvolkswirt bei Prognos, sagte, die Industrie stehe für 36 Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland. Würden die Lieferungen aus Russland gestoppt, dann stünde nur noch die Hälfte zur Verfügung. In manchen Bereichen könne man Gas einsparen; aber für die Chemieindustrie sei Gas ebenso unverzichtbar wie für die Glasindustrie oder die Walzwerke der Stahlindustrie.
Ohne Lack, Glas oder Stahl kämen die Autoindustrie und viele andere Branchen in Bedrängnis, so Böhmer. In der Lebensmittelbranche und in der Autoindustrie wäre der Schaden aber am größten. Vieles könnte zwar durch Einkäufe im Ausland ersetzt werden, aber "es pflanzt sich am Ende auf die gesamte Volkswirtschaft fort", sagte Böhmer.
Deutsche Wirtschaft im Vergleich besonders verwundbar
Zu einem ähnlich düsteren Ergebnis kommt die Studie des Mannheimer Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), die von der Stiftung Familienunternehmen in Auftrag gegeben wurde. Im Vergleich mit anderen westlichen Industrieländern sei die deutsche Wirtschaft besonders anfällig für steigende Energiepreise, heißt es in der Studie.
In ihrer Untersuchung hatten die Wissenschaftler Deutschland verglichen mit den meisten Ländern der Europäischen Union, mit Kanada, Japan, den USA und Großbritannien.
Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Preissprünge in den USA, Kanada und Japan im Vergleich mit den meisten europäischen Ländern "bislang ausgesprochen moderat ausgefallen oder ganz ausgeblieben" sind. Auch innerhalb der EU gebe es Unterschiede, wobei Deutschland und die Niederlande im ersten Quartal 2022 einen besonderen Anstieg der Strom- und Gaspreise zu verzeichnen hatten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Was Gaslieferungen anbelangt, so sind Deutschland und Italien besonders verwundbar. In der Studie heißt es:
Während kleine Länder ihren Bedarf durch Ausweichen auf andere Lieferanten zum Teil rasch substituieren können, ist dies für große Länder angesichts begrenzter freier globaler Kapazitäten vor allem bei Flüssiggas nur schwerer möglich. Fast keine Risiken aufgrund von Lieferabhängigkeiten aus Russland oder anderen als wenig zuverlässig einzustufenden Ländern für die USA, Kanada sowie Japan und nur minimale Risiken im Vereinigten Königreich.
Sollten sich der Konflikt mit Russland weiter zuspitzen und Gaslieferungen ausbleiben, dann träfe es Deutschland und Italien in besonderem Maße. Müsste Gas rationiert werden, träfe es vor allem die Metall-, Chemie und Papierindustrie. Aufgrund der fehlenden Vorprodukte sei dann auch mit Schäden in anderen Branchen zu rechnen.
Gaslücke: Vielleicht nicht – vielleicht doch
Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute blicken dagegen zuversichtlich auf die nächsten Monate. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, das ifo-Institut in München und das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) in Halle stellten am Dienstag ihre gemeinsame Studie vor.
Sie hatten mehrere Szenarien durchgerechnet und ihr Ergebnis: Die bisherigen Anstrengungen der Bundesregierung, von russischem Erdgas loszukommen, haben teilweise gewirkt. Und womöglich wird das Gas im Winter auch bei einem plötzlichen Lieferstopp nicht knapp.
Als Grund geben sie den Füllstand der deutschen Gasspeicher an. Im April waren sie nur zu etwa 30 Prozent gefüllt – und wäre es da zu einem Lieferstopp gekommen, dann hätte die Industrie im Verbrauch deutlich beschnitten werden müssen. Doch inzwischen seien die Speicher zu 58 Prozent gefüllt und deshalb werde es bis Ende kommenden Jahres zu keiner Versorgungslücke mehr kommen. Auch bei einem sofortigen Lieferstopp nicht.
Garantieren wollen es die Institute aber nicht, und so schließen sie auch eine tiefe Rezession nicht aus. Sie meinen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent könnte es im kommenden Jahr doch zu einer Versorgungslücke kommen. Im schlechtesten Fall könnte durch den daraus resultierenden Produktionsausfall ein Verlust der Wertschöpfung in der Höhe von 283 Milliarden Euro entstehen, was 9,9 Prozent der Wirtschaftsleitung des Jahres 2021 entspricht.
Wenn Schäden auftreten, dann dürften sie höher ausfallen, als in den Szenarien prognostiziert. Im Handelsblatt (29.06.2022) heißt es, um ein Vielfaches höher. Denn untersucht wurde nur, welche direkten Folgen aus dem fehlenden Gas entstehen. Welche Schäden entlang der Lieferkette oder für Verbraucher entstehen, wurde nicht berücksichtigt. Laut Handelsblatt könnte sich der Schaden durch die Folgeeffekte noch verdreifachen.