Geburt einer Nation in der Illusionsmaschine
Vor dem Filmstart von Bernd Eichingers "Der Untergang" über die letzten Tages des "Dritten Reiches": Das Deutsche Kino entdeckt wieder die Geschichte - als Versöhnungsfabrik
Da laufen sie wieder: Schreiende deutsche Männer in Schaftstiefeln und SS-Schwarz über glattpolierten Marmor, ausgezehrte aber gesinnungsfeste Häftlinge mit kahlrasiertem Schädel und gestreiften KZ-Klamotten, Soldaten in Feldgrau, tapfer aber irregeleitet, durchs MG-Feuer, fanatisierte Pimpfe, rassenrein und hart wie Kruppstahl auf Wehrübung im deutschen NAPOLA-Wald, blonde Mädel in BDM-Uniform im Bombenhagel, wasserstoffblonde deutsche Frauen, tränenerstickt aber ungebrochen, mit Lebensmittelkärtchen und Handtasche zum Vorsprechen bei der GESTAPO; rundherum knallt und scheppert, raucht und dampft es, Babelsberg wackelt im Bombenhagel, wenn die Alliierten nicht wären, wäre überhaupt alles nur halb so schlimm - und irgendwo unten im Bunker sitzt - stierer Blick und Chaplin-Bärtchen - der, der für alles verantwortlich ist, und sinniert über den "Endsieg".
Der deutsche Film in diesem Jahr - ein einziger großer Nazi-Erlebnispark: Rosenstrasse, Der Untergang, Napola, Der neunte Tag, hinzu kommt noch das Fernsehen mit seinen "Docufictions" wie Stauffenberg und Speer und er, in denen ironischerweise der Hauptdarsteller mit Sebastian Koch auch noch der gleiche ist - Edelnazi und Widerstandsikone damit visuell in eins fallen. Und dann setzt noch Sönke Wortmann unbekümmert einen oben drauf, und zeigt, wo das alles hinführt: Ins Wankdorfstadion von Bern, hinein ins Fußballwunder '54 und zur endgültigen Versöhnung von Heimkehrern und Trümmerfrauen, Altnazis und Neu-Republikanern.
Der Trend zur Geschichte im deutschen Kino ist unübersehbar. Ganz neu ist er nicht. Er begann schon Ende der 90er-Jahre: So stilistisch wie qualitativ unterschiedliche Werke wie Viehjud Levi, Der Unhold, Meschugge, Gripsholm, Gloomy Sunday, Comedian Harmonists, Aimee & Jaguar, Marlene, Nichts als die Wahrheit hatten doch eines gemeinsam - eine bestimmte Art der Hinwendung zur Geschichte, genauer zu den 12 Jahren der NS-Diktatur, zum Genozid an den Juden und zu beider Nachwirkung bis heute.
Mal burschikos, mal zerknirscht, aber jedenfalls menschlich
Lange wurde dies auf der Leinwand nur schamhaft behandelt, oder ganz totgeschwiegen. Dabei hat es bemerkenswerte frühe Spielfilme gegeben, wie Wolfgang Staudtes erfolgreiches Trümmerdrama Die Mörder sind unter uns, der sich freilich auf vage Holocaust-Anspielungen beschränkt. Eugen Yorcks ging Morituri bereits 1947 das Thema frontal an, und zeigte was vermeintlich undarstellbar ist: Ein deutsches KZ, Selektion und Mord, sowie die Flucht einiger Häftlinge. Doch der von Artur Brauner, selbst KZ-Überlebender, mit großem Risiko produzierte Film blieb kommerziell erfolglos.
Danach folgten jahrzehntelang Filme, die den Judenmord ignorierten und denen der Krieg allenfalls spektakulärer Hintergrund war, um Nachkriegsstars wie Curd Jürgens und O.W.Fischer mal burschikos (Des Teufels General), mal zerknirscht (Canaris - Patriot im Zwielicht), aber jedenfalls immer menschlich und knapp vor der Grenze zum Widerstand scheiternd vorzuführen. Oder man zeigte den Arzt von Stalingrad fast unter Umdrehung der Wirklichkeit als humanen Leidenden im sowjetischen (!) Lagerterror. Der Historiker Peter Reichel beschreibt in seinem neuen Buch "Erfundene Erinnerung" diese deutschen Film-Geschichten in allen Einzelheiten und spricht bilanzierend von der "Schuldentlastung einer Generation, die sich im Opferselbstbild ihrer moralischen und politischen Verantwortung zu entziehen suchte."
Später ging es so weiter. Während der "Neue Deutsche Film" sich lieber mit der Gegenwart auseinandersetzte, oder in seiner Spätphase an alte Ufa-Zeiten anknüpfte (Lili Marleen), bot Edgar Reitz spektakuläre, auf Kinoniveau gedrehte TV-Serie Heimat 1984 sozusagen die "linke" Variante der gleichen Haltung: "Geschichte von unten", über ein Hunsrück-Dorf zwischen 1918 und 1980. Während der NS-Jahre bleiben die Dorfbewohner Mitläufer, Massenmörder gibt es so wenig wie NS-Opfer, die Dorfgemeinschaft übersteht auch - merkwürdig unberührt - die Volksgemeinschaft, und Nationalsozialismus wird mit Modernisierung, Amerikanisierung und anderen, das Dorf verändernden äußeren Geschehnissen merkwürdig gleichgesetzt. Von Blut und Boden dagegen keine Spur. Doch auch HEIMAT, der immerhin darauf verzichtete, die "Schauwerte" von Krieg und Diktatur bombastisch in Szene zu setzen, blieb ein Einzelfall.
Erst in den späten 90ern kam die Geschichte zurück: So viel NS-Vergangenheit, wie im Augenblick, war selten auf deutschen Leinwänden, und zwar in einer Weise inszeniert, welche die Gegenwart scheinbar in vielen Fällen erstmal ausspart, die sich der Vergangenheit "als solcher" zuwenden will, und die Unterschiede zwischen einst und heute betont - auch dort, wo, was oft geschieht, per Rückblende oder Erzähl-Klammer eine Gegenwartsverankerung hergestellt wird.
Eskapismus und "Geschichtsgefühl"
Schon über die Ursachen für diesen Trend als solchen lohnte umfangreiches Nachdenken. Es scheint, dass mit dieser Hinwendung zur Vergangenheit auch eine Flucht vor der Gegenwart verbunden ist. Anders gefragt: Nur wenige Regisseure interessieren sich für politisch-moralische Konflikte und Zwangslagen der Jetztzeit, von der offenbar ist nur in Form unverbindlicher, privatistischer Komödien oder, schon seltener, fiktiver Thriller die Rede. Ausnahmen wie etwa die Filme Christian Petzolds oder Michael Kliers kommen nur in verschwindend geringen Kopienzahlen ins Kino. Stattdessen spürt man in vielen Produktionen eine latente " im Fernsehen bereits offenkundige " Sehnsucht nach der süßen Blödigkeit des Heimatfilms der 50er Jahre, die nichts anderes ist, als eine ins Unpolitische gewendete, ästhetische Mythologisierung von "unberührter" Natur und "reiner" Volksgemeinschaft.
Ein wichtiges Stichwort ist hier das von Martin Walser in seiner berühmt gewordenen Rede zum "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" 1998 beschworene "Geschichtsgefühl". Mit seiner Aussage, "nicht zuerst als Erkenntnis, sondern als Empfindung, als Gefühl" existiere die Vergangenheit, hat Walser womöglich den Zeitgeist der Berliner Republik recht treffend auf den Punkt gebracht, das Bedürfnis nach neuen Gemeinschaften, nach Einhegung sozialer Konflikte, die Ansicht, dass man der (oft anstrengenden) Theorie, der (oft komplizierten) Rationalisierung, der (oft schmerzlichen) Pädagogik, kurz all der lästigen, vermeintlich unsinnlichen Instrumente im Umgang mit Geschichte nicht mehr bedarf. Das Kino als Leitmedium der Gegenwart und als primär über ästhetische Erfahrung organisierte Kommunikationsform kann sich solchen neuen Wünschen, dem Bedürfnis nach sinnlich-saftig aufbereiteter Geschichte zum unterhaltsamen Wohlfühlen noch weniger entziehen, als etwa Literatur oder Malerei.
Nur zwei Filme der letzten Zeit pflegen, obwohl auch hier der Wohlfühlfaktor ausreichend bedient wird, einen etwas anderen Umgang mit der Geschichte. Der eine ist Achim von Borries' Was nützt die Liebe in Gedanken, der in den 20er Jahren spielt und von einer wahren Begebenheit, der "Steglitzer Schülertragödie" handelt. Man begegnet einer Gruppe von Jugendlichen, die ein Sommerwochenende am See verbringt. Es wird viel getrunken, geraucht, getanzt, gelacht, geknutscht, im Hintergrund läuft Musik. Und am nächsten Tag werden sich die gereizten, auch verletzten Gefühle entladen, wie ein Sommergewitter " erstaunlich ist die Leichtigkeit, mit der der Regisseur hier in einer historischen Epoche eine ganz und gar heutige, zeitgemäße Geschichte erzählt, wie er ein 20er-Jahre-Berlin geschmackvoll und fast ohne Klischees darstellt, ohne aufdringliches High-Life, ohne wilde Kulissenschieberei, ohne Nazi-Flaggen, die unheilschwanger auf die Zukunft weisend durchs Bild getragen werden - und dabei spiegelt der Film doch viel wieder von der Atmosphäre der Epoche.
Fiktive Bilder im Dienst der Geschichtspolitik
Der andere, weitaus kompliziertere Fall ist Wolfgang Beckers Sensations-Erfolg Good Bye Lenin. Es ist leichter, hier gegenwärtig zu sein, weil die Vergangenheit dieses Films - das Ende der DDR 1989/90 - erst 15 Jahre zurückliegt. Andererseits könnte man sich wundern, dass es mit diesem Film so lange gedauert hat. Bemerkenswert ist auch, dass hier von diktatorischer Vergangenheit in Form einer Komödie erzählt werden kann, ohne dass dies - wie im Fall der NS-Komödien - von manchen als Beleidigung der Opfer empfunden wird. Dies belegt, dass, aller ideologisch motivierten Gleichsetzerei zum Trotz, die Unterschiede zwischen roter und brauner Diktatur eben doch viel größer sind, als die Gemeinsamkeiten.
Ein wichtiger Aspekt von Good Bye Lenin ist dabei überraschenderweise bisher weitgehend unbeachtet geblieben, jedenfalls undiskutiert: Wolfgang Becker erzählt nämlich nicht nur eine rührende Geschichte über Familienbande und Erwachsenwerden, gibt nicht nur diktatorische Macht im Augenblick ihres Zerfalls (vorher war das offenbar hüben wie drüben nicht möglich) der Lächerlichkeit preis, ironisiert nicht nur westdeutsches Vereinigungspathos - er verrät auch viel über die Praxis der Geschichtspolitik. Im Film malt der Angehörige der jüngeren Generation ein völlig fiktives, aber so der Elterngeneration verträgliches Bild der Gegenwart. Diese erscheint als ein Weiterexistieren der Vergangenheit, einer Vergangenheit, die in Wahrheit moralisch und politisch längst erledigt ist. Das ist der Mutter aber offenbar nicht zuzumuten. Die Vergangenheit soll in ihren Augen zumindest auf ästhetischer Ebene fortexistieren, aber auch auf moralischer - insofern die idealistischen und humanen Gründungswerte der DDR in der Fiktion des Sohnes nun endlich beim Wort genommen werden. So hätte es sein können, sein dürfen, eigentlich sein sollen, sagt der Film der Mutter - und damit auch uns Zuschauern.
Natürlich handelt es sich hier um eine private Geschichte, wird nicht eine ganze Generation betrogen, sondern nur eine Person. Und zudem werden für den Betrug plausible individuelle Gründe angeführt. Trotzdem trifft der Film auf metaphorischer Ebene und in großer Offenheit auch eine allgemeingültige Aussage über das Kino und die Geschichte, über Absichten und Mittelgebrauch im Umgang mit historischer Wahrheit: Geschichte hat, so lautet sie, "lebensdienlich" zu sein, wie Friedrich Nietzsche es nannte, darf für die Gegenwart instrumentalisiert und muss insofern immer auch als Konstrukt betrachtet werden. Das Handwerk der Geschichtsschreibung - zumindest im Kino - ist das einer möglichst perfekten Illusionsmaschine, ist Kulissenschieberei, Schminke und Requisite, und wo es Not tut, auch mal eine glatte Lüge.
Möglicherweise trifft dies sowieso auf alle Geschichtsschreibung zu. Neuerdings hat sich, wie der Historiker Peter Reichel in "Erfundene Erinnerung" ausführt, der Ausdruck "Geschichtspolitik" eingebürgert. Geschichtsschreibung, im Kino wie anderenorts, ist demnach nie allein reine Wissenschaft, sondern immer auch gemeinschaftsbildende Praxis, gegenwartsbezogen, bis zu einem gewissen Grad manipulativ, ausgerichtet auf politische und kulturelle Interessen.
Frauen, Opfer und andere grundgute Deutsche
Wenn dieser Tage nun Der Untergang ins Kino kommt, Oliver Hirschbiegels, nach, wiederum von einem historischen Essay Joachim C. Fests inspiriertem, Drehbuch von Bernd Eichinger entstandener Film über die letzten Tage Hitlers im Führerbunker, bis auf ein übles, zu Recht vergessenes Machwerk in den 50er Jahren der erste Film aus Deutschland, der Hitler und die NS-Größen zum Filmthema macht, gedreht mit immensen öffentlichen Geldern - von 14 Millionen ist die Rede, der größte Teil finanziert von der ARD - dann lohnt noch einmal ein Blick auf die Filme, die man schon sehen konnte, auf ihren Umgang mit der sogenannten "jüngsten Vergangenheit", auf politisch-moralische Gewichtungen dieser Filme und auf die Werte, die da "geschichtspolitisch" so vertreten werden.
Nazis und ihre Verbrechen standen, trotz ihrer Tauglichkeit für ein gruseliges Spiel mit dem absolut Bösen, bisher kaum im Mittelpunkt von Filmen, allenfalls tauchten sie im Hintergrund auf, eher als Kulisse fürs private Melodram, oder um der Liebensgeschichte dann irgendwann das sentimentale Ende einzuläuten: Aimee & Jaguar, Gripsholm, Gloomy Sunday erzählten jeweils von einer Liebe, die durch die Nazis gestört und schließlich verhindert wird - die Zeitumstände sind hier zugleich billige Ausrede bei Problemen und letzter Kitzel in der Beziehung. Nur in Rosenstrasse verhält es sich etwas anders: Hier braucht es böse Nazis, um die Reinheit der für ihre inhaftierten Männer kämpfenden - deutschen, nichtjüdischen - Frauen um so deutlicher erstrahlen zu lassen. Widerstand war möglich, sagt der Film, zumindest als Frauenpower. Die Realität des Völkermords bleibt auch hier unsichtbar, wo man sie sieht, mundgerecht konsumierbar, und die zivilcouragierten Frauen letztlich unbedroht, wirklich lebensgefährlich wird es erst durch die alliierten Bombenangriffe. Und die Nazis tragen blitzblanke Uniformen, schreien laut und schießen auch mal böse in die Luft - ansonsten sind sie von grundguten Deutschen umzingelt. Und Goebbels ist nicht mehr als ein blasierter Zwerg, der sich von Katja Riemann gern rumkriegen lässt, um als Belohnung dann mal den Holocaust kurz abzublasen - eine peinliche Banalisierung des Terrors.
Die unterschwellige Botschaft ist in diesem Film wie in den anderen die, dass auch "die normalen Deutschen", die "die dageblieben sind", ganz schön zu leiden hatten im Krieg, und dass es letztlich alles nicht so schlimm war mit den Nazis. Wie auch in anderen Filmen dient zudem eine in der Jetztzeit spielende Rahmenhandlung dazu, eine Versöhnung zwischen Juden und Deutschen visuell vorzuführen. Die Nachfahren reichen sich über Schuld und Massengräber die Hände - ein verstecktes Plädoyer für Schlussstrich durch Versöhnung, auf das, wenn schon nichts anderes so doch die in ähnlichem Kontext gefallene Bemerkung Hannah Arendts zu trifft: "Wenn ein Deutscher das macht, ist es bedenklich."
Man könnte leicht zeigen, dass - wie es Reichel für das Kino der 50er und 60er nachweist - auch im deutschen Gegenwartsfilm rückwirkend virtuelle Opfergemeinschaften - zwischen Deutschen und Juden, oder nur als Pendant zur Volksgemeinschaft - geschmiedet werden, dass Schuldabweisung und falsche Versöhnung dominieren. Verräterisch ist hierbei auch der Umgang mit Bombenkrieg und Wehrmacht. Ungebrochen stricken deutsche Filme am Mythos vom unbescholtenen deutschen Soldaten, der für die NS-Menschheitsverbrechen keinerlei Mitverantwortung trägt, und ziehen allzu klare, allzu schlichte Grenzlinien zwischen Nazis und "guten Deutschen". Zudem verwandelt das Kino die Historie für derlei gutgemeinte, aber etwas hysterisch fröhliche Versöhnung ins Melodram. Stoffe, gleich welcher Couleur werden privatisiert, emotionalisiert und sentimentalisiert.
Mit solchen fragwürdigen Entlastungsdiskursen fügt sich das zeitgenössische Kino in ähnliche Tendenzen, die in Deutschland während der letzten Jahre auch in Literatur und Wissenschaft erkennbar wurden: Neben dem schon erwähnten "Geschichtsgefühl" von Martin Walser und dem darauf folgenden "Walser-Bubis-Streit" der über Wochen die deutschen Feuilletons dominierte, wären auch Günther Grass’ Novelle "Im Krebsgang" zu nennen, sowie die durch die Bücher des Historikers Jörg Friedrich neu entfachte Debatte über Moral und Kriegsziele des alliierten "Bombenkriegs", eine Diskussion, die noch nicht beendet ist.
Von Mensch zu Mensch: Nazischlampe, liebende Mutter und die leidende Kreatur
Vor diesem Hintergrund ist auch der neue Geschichtsboom im deutschen Kino zu sehen. Es wird spannend werden, zu sehen, wie derlei Rezepte und Herangehensweisen nun bald in Der Untergang zur Anwendung kommen. Nach eigener Aussage sieht Bernd Eichinger sein Führerbunkerdrama als - "deutsche Version der 'Titanic'". Nicht etwa, weil die auch untergegangen ist, sondern um die Mischung aus Facts und Fiction zu versinnbildlichen, die ihm vorschwebt. Ob diese partielle Fiktion, ob Kino-Infotainment im Fall des Massenverbrechers Hitler überhaupt moralisch zulässig und ästhetisch möglich ist, ist eine ganz eigene Frage, die nach Ansicht des Films noch zu diskutieren sein wird. Der Historiker Hayden White hat bereits in anderem Zusammenhang eindringlich vor der Gefahr der Liquidierung historischer Erinnerung durch fiktive Geschichtsschreibung, durch "facts from fiction" gewarnt.
Man darf in diesem Zusammenhang gespannt sein, wie Der Untergang z.B. Corinna Harfouch als Magda Goebbels zeigt, die ihre Kinder vergiftet - eine Szene, über deren historische Details nichts überliefert ist, und nicht nur daher eine Gratwanderung über den Abgründen des Geschmacks: Entweder sieht man sie bis zum Ende als eiskalte Nazischlampe oder am Schluss doch noch als liebende deutsche Mutter mit einer Träne im Taschentuch. Oder sie macht einfach die Tür zu und man sieht nichts - eines wie das andere eine unmögliche Vorstellung, schon allein, weil hier die Grenzen möglicher Kinoimagination überschritten werden.
Und soll man, will man sich wirklich "Hitler als Mensch" vorstellen? Was soll das heißen, wenn es mehr sagen will, als die Banalität, dass Hitler auch ein Mensch im biologischen Sinne war? Dass er es auch im moralischen war? Gewiss, für gläubige Christen müsste es auch für Hitler die Möglichkeit des Verzeihens geben " vorausgesetzt freilich er bereut seine Sünden und tut Buße. Aber für einen Film, überdies einen, der es auf Unterhaltung und "Weltmarktstauglichkeit" (Eichinger) anlegt, dürfte für so etwas so wenig eine taugliche Grundlage sein, wie für eine moderne, und damit nicht theologisch fundierte Gesellschaft.
Oder soll "Hitler als Mensch" bedeuten, dass "wir alle" irgendwie Hitler in uns haben? Auch das ist entweder eine Banalität oder eine Unverschämtheit, nicht nur moralisch " werden damit doch nicht nur Hitlers Taten relativiert, sondern auch potentiell jedem Menschen unterstellt, zu ähnlichem in der Lage zu sein.
Wenn dies alles dann überdies dazu führt, dass man "Mitleid mit diesem armseligen Mann" empfindet, wie Hauptdarsteller Bruno Ganz es jetzt erklärt, ohne ein Wort über die Opfer Hitlers zu verlieren, werden die Kommentare zur Entschuldigung und Verniedlichung. Es ist nicht nur für Hitlers Opfer eine unerträgliche Zumutung, ihren Täter plötzlich als "leidende Kreatur" ansehen zu sollen. Es ist aber auch ein völliges Mißverständnis, sollten die, die solche Ansichten vertreten, glauben, sich damit in der Tradition von Hannah Arendts These über die "Banalität des Bösen" oder Thomas Manns Formel vom "Bruder Hitler". Arendt und Mann " die in solchen Dinge durchaus strategisch dachten " ging es vor allem darum, gegen die Mythologisierung Hitlers als eines "absolut Bösen" oder gar eines "Dämons" anzuschreiben, die Hitler und des NS aus der deutschen Wirklichkeit und ihren politisch-kulturellen Traditionszusammenhängen herauslösen wollten. Im Unterschied dazu steht die Idee "Hitler als Mensch" für einen doppelten Gegenmythos, für die Banalisierung und Ästhetisierung des Bösen. Gesagt wird implizit: 1. Hitler werde von irgendwelchen ungenannten Kreisen "dämonisiert". Und 2. Hitler sei gar nichts Besonderes, deswegen könne man ihm auf Augenhöhe, sozusagen von Mensch zu Mensch begegnen.
"Jetzt stellen wir uns einmal gaaaanz dumm..."
Regisseur Oliver Hirschbiegel formuliert seine entsprechende Haltung salopp: "Die Diabolisierung und damit die Vereinfachung der Materie ging mir auf die Nerven, eine objektive Betrachtung geht nur über Hintergrundbetrachtung und nicht über Vorverurteilung". Davon einmal abgesehen, dass es interessant wäre zu hören, was Hirschbiegel denn meint, wer aus seiner Sicht im Kino oder anderenorts "diabolisiert" und "vereinfacht": Weiß Hirschbiegel nicht, dass es durchaus objektive Betrachtungsweisen und erwiesene Tatsachen über Hitlers Taten gibt, umfangreiche wissenschaftliche Nachweise über das Geschehen in Deutschland 1933-1945. Auf einen Oliver Hirschbiegel hat dazu die Welt nicht gewartet. Insofern ist hier nicht erst ein " historisches, moralisches, politisches " Urteil zu finden " es ist bereits gefunden. Oder möchte Hirschbiegel etwa dieses Urteil revidieren? Oder möchte er sich den Stoff ohne fremde Hilfe selbst erarbeiten, indem er einmal Hitler "ohne Vorurteile" (so etwas darf eigentlich kein Viertklässler mehr sagen), also etwa wie in einer historischen Feuerzangenbowle - "Jetzt stellen wir uns einmal gaaanz dumm..." " wie einen Mensch betrachtet, über dessen Biographie niemand etwas weiß. Möglicherweise ist Hirschbiegel einfach ein zu schlichtes Gemüt, um solche Überlegungen zu verstehen.
Sein Produzent Bernd Eichinger ist jedenfalls klüger: "Wir wollen Geschichte erzählen, nicht kommentieren" sagt er. Natürlich ist auch dies eine naive Position, sollte Eichinger ernsthaft glauben, dass man das eine ohne das andere tun könnte. Jede Themenwahl schon eine kommentierende Auswahl aus der Fülle der Wirklichkeit, die bestimmte Dinge ins Zentrum rückt, anderes dafür verschweigt. Aber man darf ihm zu seinen Gunsten unterstellen, dass er das nicht tut, dass er vielmehr eigentlich sagen wollte, dass sich sein Film auf eine kühle Präsentation der Fakten beschränkt, sich mit Pädagogik zurückhält " was eine legitime Position wäre, zumal man ja sagen kann: Im Falle Hitlers ist das " historische, moralische, politische " Urteil offenkundig und unumstritten. Allerdings sagt Eichinger auch: "Es gibt keine Moral, es ist eine ganz wesentliche Aufgabe des Unternehmens und des Drehbuchs gewesen, dass wir überhaupt in keiner Weise moralisieren." Warum das so wichtig ist, warum es schlecht wäre, über Hitler eindeutige moralische Urteile parat zu haben, sagt Eichinger leider nicht.
Die deutsche Kate Winslet
Die weitaus wichtigere Frage lautet allerdings: Macht Der Untergang das alles überhaupt? Der Film zeigt das Berlin des April 1945 als Irrenhaus unter Artilleriebeschuss, Hitler als einen, der es zu der Zeit auch nicht gerade leicht hatte, aber immer noch gern Schokolade isst und nett zu seinen Sekretärinnen ist. Und als einer, der verraten, vereinsamt, trotzdem Haltung bis zum Schluss bewahrt. Wie notwendig ist so ein Projekt? Welchem Zweck dient der Tabubruch? Ist nicht schon der Titel falsch " war der eigentliche Untergang doch der, der den Millionen Juden in den Konzentrationslagern widerfahren ist. Auch wenn Eichinger und seine Münchner Gang es nicht wollen Der Untergang ist, so lange er nicht andere Antworten auf diese Fragen liefert, von der Debatte über das Tätervolk, das sich am liebsten über sein eigenes Täterleid beugt, nicht zu trennen.
Als ganz private Geschichte, Hitler als Mensch oder die Beziehung zwischen ihm und Eva Braun als Liebesmelo, wird auch Eichinger den Stoff kaum zu inszenieren wagen. Eher darf man damit rechen, dass Alexandra Maria Lara in der Rolle der Hitler-Sekretärin Traudl Junge in Eichingers Titanic zur deutschen Kate Winslet wird, die stellvertretend für uns "die deutsche Katastrophe" (Friedrich Meinecke) überlebt, und rußbeschmiert uns Zuschauer aus dem zerbombten Berlin hinausgeleitet " hinein in die schöne neue Bundesrepublik.
Literaturhinweise: Peter Reichel: "Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater"; Hanser Vlg., München 2004 Sven Kramer (Hg.): "Die Shoah im Bild"; edition text+kritik, Augsburg 2003