Gefühle bestimmen die Moral

Wie verhält sich das Gehirn, wenn es Effizienz und Gerechtigkeit abwägen muss? Forscher entschlüsseln die Denkprozesse bei moralischen Entscheidungen

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Ist es besser, 100 Menschen in Not richtig zu helfen, ihr Überleben zu sichern, oder sollte man aus Gründen der Gerechtigkeit die vorhandenen begrenzten Ressourcen besser unter allen Betroffenen einer Katastrophe aufteilen - auf die Gefahr hin, dass damit am Ende niemandem das Weiterleben gesichert ist? Hilfsorganisationen weltweit müssen sich immer wieder mit ähnlichen Fragen befassen. Fragen, wie sie auch die Überlebenden des klassischen Flugzeugabsturzes stellen müssen: Dürfen sie einen Verletzten verspeisen, wenn nur dadurch die Existenz aller Notgelandeten gewährleistet ist?

Fragen auch, wie sie der 11. September hinterlassen hat: sind wir berechtigt, ein vermutlich mit Terroristen besetztes Flugzeug abzuschießen, zum Wohle der potenziellen Opfer eines gezielten Angriffs? Im Vordergrund steht dabei das Problem, ob letztlich die Effizienz mehr gilt oder die Gerechtigkeit. Philosophen haben unterschiedliche Antworten darauf gefunden - von Kants Lob der Rationalität bis zu Humes Plädoyer dafür, das Gefühl entscheiden zu lassen. Nun sind dem Menschen, allen derartigen Diskussionen zum Trotz, ethische Dilemmas nicht fremd. Wir sind es gewohnt, damit umzugehen. Doch was ist in der Realität die treibende Kraft bei moralischen Entscheidungen? Wissenschaftler der University of Illinois und des California Institute of Technology sind der Antwort mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI ein Stück näher gekommen: Sie haben, wie sie im Wissenschaftsmagazin Science berichten, Menschen dabei beobachtet, wie sie ethische Entscheidungen treffen und welche Gehirnregionen sie dabei aktivieren.

Ming Hsu von der University of Illinois untersuchte als Coautor der Studie die neurologischen Grundlagen moralischer Entscheidungen (Foto: L. Brian Stauffer, U. of I. News Bureau)

Den 26 Studienteilnehmern legten die Forscher ein Problem aus der Praxis vor: Es galt, Kindern in einem Waisenheim in Uganda Mahlzeiten zu spenden. Dabei handelte es sich nicht um fiktive Spenden, den Probanden erschien der Versuch deshalb nicht als rein psychologisches Spiel. Pro Runde musste an jedes Kind der Gegenwert von 24 Mahlzeiten verteilt werden - allerdings, so die Regel, war davon jeweils eine bestimmte Menge Mahlzeiten abzuziehen. Und hier beginnt das ethische Dilemma. Die Probanden konnten nämlich entweder einem einzelnen Kind zum Beispiel 15 Mahlzeiten entziehen - oder einem anderen Kind zwölf und einem dritten sechs. Im ersten Fall wäre also das Effizienzprinzip gewahrt - aber nicht das der Gerechtigkeit, weil ein einzelnes Kind die gesamte Last tragen musste. Um den Entscheidungsprozess besser verfolgen zu können, wählten die Forscher eine clevere Strategie: Sie ließen in einer Computeranimation eine Kugel auf den Entscheidungspunkt zu rollen. Der Versuchskandidat konnte den Weg der Kugel bestimmen und bekam dabei stets bildlich angezeigt, welches Kind seine Entscheidung wie treffen würde.

Tatsächlich bevorzugte die große Mehrheit der Studienteilnehmer eine gerechte Aufteilung gegenüber der zwar effizienteren, aber ungerechten. Dass sich hier die Emotion gegenüber dem rationalen Denken durchsetzt, ließ sich auch unter dem Tomographen beobachten. Beteiligt waren vor allem Inselcortex, Putamen und der Nucleus Caudatus. Dabei war der Inselcortex umso aktiver, je stärker die Entscheidung des Individuums hin zu mehr Gerechtigkeit fühlte. Dem Inselcortex wird generell auch eine Rolle bei der Wahrnehmung von Emotionen zugeschrieben sowie bei der Beurteilung von Normverstößen. Das Putamen hingegen regte sich umso stärker, je effizienter die Entscheidung ausfiel; es wird üblicherweise auch bei belohnungsbasiertem Lernen aktiviert. Der Nucleus Caudatus schließlich wurde aktiviert, wenn die Entscheidung gefallen war - er könnte damit so etwas wie ein Bewertungssystem darstellen.