"Gegen Abschiebungen und soziale Ausgrenzung"

Flüchtlinge aus aller Welt treffen sich bei Konferenz in Jena.

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Moderne Nomaden oder "Business-Gypsies" nennen sich heutzutage diejenigen, die quer über den Erdball von einem Termin zum nächsten jagen oder das Jahr über von Kongress zu Kongress hoppen. Angesichts der Lobpreisung grenzenloser Freizügigkeit mag die Forderung nach dem elementaren Grundrecht der Bewegungsfreiheit geradezu grotesk wirken: Seit dem vergangenen Samstag treffen sich in Jena Menschen, die laut Gesetz nicht einmal die Landkreisgrenze ihres Wohnortes verlassen dürfen.

Eigentlich sollte dieser Kongress ein Ding der Unmöglichkeit sein: Flüchtlinge aus aller Welt treffen sich auf dem Universitätsgelände der thüringischen Landeshauptstadt zu einem zehntägigen Kongress: "Gegen Abschiebungen und soziale Ausgrenzung" lautet das Motto der Veranstaltung, an der bislang rund 500 Menschen teilnehmen. Vorträge, Arbeitsgruppen, Filmvorführungen, Konzerte und die gemeinsame Teilnahme an der diesjährigen 1.-Mai-Demonstration des Jenaer DGB stehen auf dem 20 Kilobyte schweren Programm des Kongresses. Über ein viersprachiges Interface können die meisten Referate, Berichte und Diskussionsbeiträge im Web mitverfolgt werden: Das Hamburger Nadir-Projekt hostet ein Kongress-Journal, das das seit Samstag gesprochene Wort in HTML-Texte konvertiert.

Die drängendste Frage der Kongressvorbereitung offenbart auch gleich einen Großteil der politischen Brisanz des Unterfangens: Weil Asylbewerber in Deutschland seit 1982 der sogenannten "Residenzpflicht" unterliegen, dürfen sie die Grenzen des Landkreises, dem sie zugewiesen sind, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Behörden verlassen. Diese gravierende Einschränkung der Bewegungsfreiheit macht Treffen von Flüchtlingen praktisch zu subversiven Ereignissen. Wer in den Routine-Kontrollen auf Autobahnen oder an Verkehrsknotenpunkten gerät und keine Reiseerlaubnis vorweisen kann, begeht zwar nur eine Ordnungswidrigkeit, wird aber zu empfindlichen Geldstrafen verurteilt, die im Wiederholungsfall sogar bis zur Abschiebung führen können.

Kein Wunder, daß die Residenzpflicht beim Kongress in Jena ganz oben auf der Tagesordnung steht: Nicht alle Landratsämter folgten im Vorfeld nämlich der Empfehlung der Bundesausländerbeauftragten Marie Luise Beck-Oberdorf und erteilten den Flüchtlingen entprechende Genehmigungen. So untersagte die Cottbuser Ausländerbehörde elf Asylbewerbern die Teilnahme am Flüchtlingskongress in Jena und verweigerte den Flüchtlingen die für die Fahrt erforderlichen Reisepapiere. Etwa die Hälfte aller Teilnehmer seien von den lokalen Ausländerbehörden an der Reise nach Jena gehindert worden, sagte Cornelius Yufanyi, einer der Organisatoren des Kongresses.

Die trotzdem nach Jena gekommenen Flüchtlinge verurteilten die "Residenzpflicht" als "unerträgliche Menschenrechtsverletzung" und kündigten für die nächsten Monate eine Kampagne des zivilen Ungehorsames an. Die Aktivitäten sollen in einen bundesweiten Aktionstag am 3. Oktober münden. Ausserdem wollen die Flüchtlinge vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die nur in Deutschland geltende Residenzpflicht klagen. Schützenhilfe kam unlängst vom UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR, das die Unvereinbarkeit der Residenzpflicht mit internationalem Recht feststellte.

Ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses ist der Kampf gegen Abschiebungen. Neben den oftmals sogar erfolgreichen Faxkampagnen gegen Einzelabschiebungen wollen die Kongressteilnehmer in Jena nun gemeinsame Strategien entwickeln, um den jährlich rund 40.000 Deportationen aus der Bundesrepublik Deutschland breit organisierten Widerstand entgegenzubringen. An Anknüpfungspunkten mangelt es jedenfalls nicht: Mit einem über 60-tägigen Hungerstreik in einem Berliner Abschiebegefängnis kämpfte eine Gruppe von ukrainischen Frauen bis wenige Tage vor dem Kongress gegen ihre drohende Abschiebung. Erst als sich der Gesundheitszustand der Flüchtlinge dramatisch verschlechterte, wurden die Frauen einzeln aus der Abschiebehaft entlassen. "Wir sind keine Verbrecherinnen. Warum sind wir in einem Gefängnis?" gab Soja Schatz, eine der Hungerstreikenden, als Begründung für ihre Protestaktion an. Im Gegensatz zu den meisten EU-Ländern, in denen die Abschiebehaft nur wenige Tage andauern darf, können Flüchtlinge in Deutschland bis zu eineinhalb Jahren gefangen gehalten werden, ohne irgendeine Straftat begangen zu haben.

Seit einigen Wochen befinden sich auch Fluggesellschaften, die Abschiebungen durchführen, im Zentrum der Kritik: Das bundesweite Flüchtlingsunterstützungsnetz "kein mensch ist illegal" startete Ende März eine Kampagne, um die Lufthansa AG davon zu überzeugen, künftig keine Abschiebungen mehr gegen den Willen der Betroffenen durchzuführen. Dass solche Kampagnen, die direkt auf das Image von Konzernen zielen, erfolgreich sein können, belegt die schnelle Reaktion der Lufthansa: In einer eilig einberufenen Pressekonferenz kurz nach den ersten Aktionen der Anti-Abschiebungs-Aktivisten deutete die Unternehmensleitung bereits ein Einlenken nach dem Vorbild der belgischen SABENA und der SwissAir an. Bis zur Aktionärsversammlung am 15. Juni in Berlin soll nun der Druck auf die Lufthansa soweit verstärkt werden, dass der Konzern mit einer unzweideutigen Erklärung Stellung bezieht.

Der Kongress in Jena bietet zehn Tage lang Gelegenheit, die vielfältigen Erfahrungen im Kampf um die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen mit Gästen aus vielen anderen europäischen Ländern, darunter vor allem VertreterInnen der französischen "sans-papiers" auszutauschen. Darüberhinaus machten zahlreiche SprecherInnen von Basisorganisationen auf die politische Situation den Herkunftsländern aufmerksam: "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!" Ein Dutzend aus dem Mittleren Osten, Asien, Afrika, und Lateinamerika eingeladene ReferentInnen behandelten in ihren Beiträgen die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Globalisierung.

Fast alle Referate und die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden umgehend im Kongress-Journal veröffentlicht und bleiben auch nach dem Kongress im Web zugänglich. Dafür sorgt das Nadir-Projekt, die sich seit Jahren auf den Internet-Support für politisch ambitionierte Veranstaltungen spezialisiert haben. Wie beim letztjährigen Grenzcamp entwickelten die Hamburger NetzaktivistInnen ein Redaktionssystem, mit Hilfe dessen Bilder, Berichte, Redemanuskripte und Diskussionsbeiträge schnell und unkompliziert hochgeladen werden können. Für Menschen, denen das Recht, sich frei bewegen zu dürfen, versagt ist, dürfte es eine besondere Bedeutung haben, wenigstens frei miteinander kommunizieren zu können.